Marc Chagall
Памер: 99с.
Мінск 1992
JK^ ? c ^^aA^
Ingo F. Walther/Rainer Metzger
Marc Chagall
18871985
Malerei als Poesie
Benedikt Taschen Verlag
UMSCHLAGVORDERSEITE:
Der Geiger, 19111914
Öl auf Leinwand, 94,5 x 69,5 cm Düsseldorf, Kunstsammlung NordrheinWestfalen
FRONTISPIZ:
Selbstbildnis mit Pinseln, 1909
Öl auf Leinwand, 57 x 48 cm Düsseldorf, Kunstsammlung NordrheinWestfalen
© 1992 Benedikt Taschen Verlag GmbH Hohenzollernring 53, D5000 Köln 1 © COSMOPRESS, Genf 1987, für die Abbildungen Produktion: Ingo F. Walther, Alling Mitarbeit und Redaktion: Matthias Buck, München Typographie und Herstellung: Ingo F. Walther und Hubert K. Hepfinger, Freising Umschlaggestaltung: Peter Feierabend, Berlin Satz: Wolfgang Hellmich, Moosburg a.d. Isar Farbreproduktionen: Newsele Litho, Italien und Repro Ludwig, Zell am See Schwarzweißreproduktionen: Reprotechnik Benkler, Landshut
Korrekturen: Uwe Steffen, München Printed in Germany ISBN 3822804282
Inhalt
6 Das Frühwerk in Rußland 1887 1910
14 Die Pariser Jahre 19101914
34 Krieg und Revolution in Rußland 19141923
50 Frankreich und Amerika 1923 1948
76 Das Spätwerk 1948 1985
92 Marc Chagall 1887 1985: Leben und Werk
Das Frühwerk in Rußland 1887 1910
Poet, Träumer, Exot zeit seines langen Lebens war Marc Chagall die Rolle des Außenseiters und künstlerischen Eigenbrötlers auf den Leib geschrieben. Als Jude, der das alte Bilderverbot souverän mißachtete, als Russe, der die vertraute Selbstgenügsamkeit überwand, als Sohn einer armen, dafür um so kinderreicheren Familie, der sich in der mondänen Eleganz der Kunstsalons etablierte, ist Chagall eine Art Wanderer zwischen den Welten. Er verkörperte von jeher den Charme des Unangepaßten, an dem sich die Integrationskraft westlicher Kultur ebenso messen ließ wie ihre Liberalität. Eine nicht eben alltägliche Biographie und ihr Widerschein in einer fremdartigen Motivwelt wurden zum Markenzeichen des Phänomens Chagall. Und der Künstler selbst tat alles, um sein Image des raunenden, staunenden Fremdlings, des Kind gebliebenen Weltbürgers, des einsamen Visionärs zu pflegen. Tief religiös und heimatverbunden, ist sein Werk der vielleicht eindringlichste Appell an Toleranz und Respekt vor dem Andersartigen, den die Moderne zu leisten imstande war.
Die Welt des Ostjudentums, in die Marc Chagall am 7. Juli 1887 als ältestes von neun Kindern hineingeboren wurde, war ebenso eng wie geruhsam. Zwischen Synagoge, Ofenbank und Geschäft spielte sich, wie Chagall selbst es in seinem Erinnerungsbuch »Mein Leben« augenzwinkernd beschrieben hat, das beschauliche Dasein ab. Witebsk, seine Heimatstadt, zeigte, obwohl nur die Hälfte ihrer 50000 Einwohner Juden waren, die typischen Züge des »Schtetl« mit seinen Holzhäusern, seiner Ländlichkeit, seiner Armut. Immerhin konnte Marc nach dem »Cheder«, der jüdischen Elementarschule, noch die offizielle städtische Schule besuchen, die Juden eigentlich verwehrt war. Die Mutter, FeigaIta, hatte in der ihr eigenen Tatkraft den Lehrer bestochen, und so entwand sich der Junge dem engmaschigen Netz verwandtschaftlicher und nachbarlicher Beziehungen, in das man demütig verstrickt blieb. Er sprach russisch statt jiddisch, nahm Violin und Gesangsunterricht, begann zu zeichnen. Vor allem aber kam er in Kontakt mit dem weltoffeneren Bürgertum und seiner kulturellen Beflissenheit, mit einem Leben, das ihm Sachar, sein Vater, der ewig müde Heringshändler, nicht hatte bieten können.
»Mein Vater hatte blaue Augen, aber seine Hände waren voller Schwielen. Er arbeitete, er betete, er schwieg. Wie er, war auch ich schweigsam. Was sollte aus mir werden? Sollte ich so mein ganzes Leben lang bleiben, vor einer Wand sitzend, oder sollte ich ebenfalls Tonnen schleppen? Ich betrachtete meine Hände. Ich hatte zu zarte Hände...
Ich mußte einen besonderen Beruf finden, eine Beschäftigung, die mich nicht zwingen würde, mich vom Himmel und den Sternen abzuwenden, und die mir erlauben würde, meinen Sinn des Lebens zu finden. Ja, genau das suchte ich. In meiner Heimat jedoch hatte niemals jemand vor mir die Worte »Kunst, Künstler« ausgesprochen. »Was ist das, ein Künstler?« fragte ich.«
MARC CHAGALL
Sitzender weiblicher Akt in Rot, 1908
Öl auf Leinwand, 90 x 70 cm
London, Privatbesitz
7
Junges Mädchen auf einem Sofa (Mariaska), 1907
Ol auf Leinwand, 75 x 92,5 cm
Caracas, Privatbesitz
»Mit meinen 27 Rubeln in derTasche, den einzigen, die ich im Leben von meinem Vater für die Reise erhielt, verschwinde ich, immer noch rosig und voller Locken, nach Sankt Petersburg, begleitet von meinem Kameraden. Es ist entschieden.«
MARC CHAGALL in »Mein Leben
Er war hartnäckig genug, sich die für Juden erforderliche Aufenthaltsgenehmigung für die Hauptstadt zu beschaffen. So zog er im Winter 1906/07 mit seinem Freund Viktor Mekler nach St. Petersburg. Noch in Witebsk hatte er die Malschule von Jehuda Pen besucht, nun wollte er im kulturellen Zentrum Rußlands eine gründliche Ausbildung zum Künstler erfahren. »Junges Mädchen auf einem Sofa«, das Porträt der Schwester Mariaska, das während eines Besuchs zu Hause 1907 entstand (Abb. oben), ist eines der frühesten Gemälde Chagalls, Dokument seiner neu erworbenen künstlerischen Kompetenz vor allem gegenüber der Skepsis seiner Familie. Wie ein Fotograf hat er das Mädchen auf den übergroßen Diwan drapiert, läßt es kokett die Beine übereinander schlagen, schmückt es mit einem Barett. Fotos von sich ließ auch die orthodox jüdische Familie Chagall zu, und so reflektiert das Bild in der Alltäglichkeit des Motivs und seiner gleichwohl etwas gestelzt wirkenden
8
Die Familie oder Mutterschaft, 1909
Öl auf Leinwand, 74 x 67 cm New York, Privatbesitz
Pose die vertraute Ästhetik der Kamera. Die ornamentale Flachheit, die verschliffenen Übergänge von der Figur zum Dekor der Decke, die weichen, runden Linien, die den Körper sanft konturieren, weisen auf den Einfluß der aktuellen Malerei St. Petersburgs hin. Die handwerklichen Mängel des Bildes, besonders bei der Gestal
9
Russische Hochzeit, 1909
Öl auf Leinwand, 68 x 97 cm Zürich, Sammlung E.G. Bührle
Die Dorfstraße, 1909
Bleistift und Gouache auf Papier, 28,8 x 38 cm
Paris, Privatbesitz
tung der Gliedmaßen zu beobachten, vermag diese Anpassung noch nicht zu verdecken.
Wie anders, wieviel kraftvoller und eigenständigerwirkt dagegen der »Sitzende weibliche Akt in Rot« (Abb. S. 6), der ein Jahr später ebenfalls in Witebsk gemalt wurde. Chagall war gerade, dank eines Stipendiums, in die berühmte SwansewaSchule aufgenommen worden. Hier lehrte Leon Bakst, einer der Wortführer der Öffnung nach Westen und einflußreicher Vertreter eines malerischen Symbolismus im Umkreis der Zeitschrift »Mir Iskusstwa« (Welt der Kunst). Unter seiner Ägide erwarb Chagall wenn nicht neue visuelle Ausdrucksformen, so doch ein ausgeprägtes Bewußtsein von seiner Stellung als Künstler. Frontal nun zeigt Chagall sein Aktmodell, die unmittelbare Massigkeit des Körpers hat jede etüdenhafte Zurückhaltung wie im Porträt von Mariaska verloren. In der eigenwilligen Rottönung, kontrastiert vom Grün der Pflanze, zeigt sich Chagall ebenso mit der neuen französischen Malerei vertraut, namentlich der eines Henri Matisse, wie in der Fragmentierung der Figur, die ihr eine torsohafte Entrücktheit verleiht.
Chagall ist nicht der selbstherrliche Künstlerfürst, als den er sich, den Blick despektierlich aus dem Bild gerichtet, in seinem
10
»Selbstbildnis mit Pinseln« von 1909 darstellt (Abb. S. 2). Doch er ist auch nicht mehr der naive Junge aus dem einfachen Volk. Erst jetzt, mitten in den Lehrjahren in der Hauptstadt, distanziert von der eigenen Herkunft, kann sich Chagall den Themen und Motiven zuwenden, die sein CEuvre in Zukunft auszeichnen werden, den Dorfveduten, Bauernszenen, Innenansichten der kleinen Welt. Erst in der Gegensätzlichkeit zum eigenen bohemehaften Leben in der Großstadt mit seinen Geldsorgen und seiner Option, berühmt zu werden, entwickelt sich der zärtliche, intime Blick auf das »Schtetl«.
Ein Bild wie »Die Familie oder Mutterschaft« von 1909 (Abb. S. 9) gewinnt erst aus dieser Spannung seine Qualität. Große Flächen, ruhige Gestalten, einfache Gebärden verleihen ihm eine lapidare Würde, die Alltäglichkeit jüdischer Riten ist entrückt in eine zeitlose, ikonenhafte Stille. Doch verweist die Komposition auch auf ein traditionelles westliches Bildschema, auf die Darstellung der Beschneidung Christi mit dem Hohenpriester, der Madonna mit Kind und dem sich dezent im Hintergrund haltenden Josef. Im Angebot einer allegorischen Lesbarkeit des Bildes, in der Anlage einer christlichen Geschichte in einer alltäglichen Szenerie hält
»Ich heiße Marc, ich habe ein empfindsames Innenleben und kein Geld, aber man sagt, ich habe Talent.«
MARC CHAGALL in »Mein Leben«
Die Geburt, 1910
Öl auf Leinwand, 65 x 89,5 cm Zürich, Kunsthaus Zürich
Der Vater des Künstlers, um 1907
Tusche und Sepia, 23 x 18 cm Moskau, Privatbesitz
»Wenn ich meinen Vater unter der Lampe betrachtete, träumte ich von Himmeln und Gestirnen, weit hinter unserer Straße. Alle Poesie des Lebens hat sich mir da in der Traurigkeit und dem Schweigen meines Vaters verdichtet. Hier war die unerschöpfliche Quelle meiner Träume: mein Vater, vergleichbar der unbeweglichen, verschwiegenen und schweigsamen Kuh, die auf dem Dach der Hütte schläft.«
MARC CHAGALL
Frau mit Blumenstrauß, 1910
Öl auf Leinwand, 64 x 53,5 cm New York, Sammlung Helen Serger
Chagall auch seine eigene malerische Sprache zwischen Naivität und Attitüde mehrdeutig, ganz wie sein großes Vorbild in der Zeit, Paul Gauguin, der die Geburt Christi in die Südsee verlegt hatte.
Die »Russische Hochzeit« (Abb. S. 10) reflektiert dagegen wieder in einer Genreszene verschlüsselt das eigene private Glück. Über Thea Bachmann hatte Chagall im Herbst 1909 Bella Rosenfeld kennengelernt, Tochter eines jüdischen Juweliers, die, wie er aus Witebsk stammend, in Moskau studierte. Auch sie hatte also ihre Heimat hinter sich gelassen. Sie wird Chagall 1915 heiraten, viele seiner Arbeiten werden ihr gewidmet sein, die Harmonie seiner Bildwelten wird aus der Beziehung zu ihr schöpfen.