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    Marc Chagall


    Памер: 99с.
    Мінск 1992
    101.96 МБ
    «Habt ihr den betenden Alten gesehen? Das ist er. Schön war es, wenn man so in Ruhe arbeiten konnte. Manchmal stand eine Gestalt vor mir, ein Mann, so tragisch und so alt, daß er schon wie ein Engel aussah. Aber ich konnte es nicht länger als eine halbe Stunde mit ihm aushalten. Er stank zu sehr.« Liebevollspöttisch, mit der wissenden Nonchalance des Weltmanns, nähert sich Chagall nun der kleinen Welt, aus der er herausgewachsen ist. Bilder wie «Betender Jude« (Abb. links) und »Festtag« (Abb. S. 39) verlassen sich gern auf den unmittelbaren Charme ihres Motivs, die zeitlose Würde, die diese alten, veralteten Diener ihres Glaubens ausstrahlen. Gleichzeitig aber wird Chagalls Kritik an ihrer Verstrickung in die Idylle spürbar, die der Künstler nicht mehr nachvollziehen kann. Ikonen einer verspäteten Welt sind diese Bilder.
    LINKS:
    Betender Jude (Der Rabbiner aus
    Witebsk), 1914
    Öl auf Leinwand, 104 x 84 cm Venedig, Museo d’Arte Moderna
    37
    Der Geburtstag, 1915
    Öl auf Karton, 80,5 x 99,5 cm
    New York, The Museum of Modern Art
    RECHTS:
    Festtag (Rabbiner mit Zitrone), 1914
    Öl auf Karton auf Leinwand, 100 x 81 cm Düsseldorf, Kunstsammlung
    NordrheinWestfalen
    Am 25. Juli 1915 heiratet Chagall seine lange Jahre nur von Ferne geliebte Bella. Etliche Schwierigkeiten hatten die beiden zu überwinden, vor allem die Ressentiments von Bellas Eltern, die sich einen Jungen aus besserem Hause als Schwiegersohn gewünscht hätten. Spätestens die Geburt der kleinen Ida, ziemlich genau neun Monate später, wird aber dann alle Bedenken zerstreuen. In wirren Zeiten schweben die beiden im siebten Himmel, trefflich dokumentiert im Bild »Der Geburtstag« (Abb. oben). Minuziös hat Chagall das Muster seines Diwankissens abgemalt, den Dekor der Tischdecke, überhaupt gibt er sich Mühe, die Einrichtung des Zimmers exakt wiederzugeben. Die Liebe, die das Bild beschwört, hat eine konkrete Umgebung, existiert in Wirklichkeit, nicht als Vision der Geliebten wie einst in Paris. »Ich öffnete nur mein Zimmerfenster«, schreibt Chagall, »und schon strömten Himmelblau, Liebe und Blumen mit ihr herein. Ganz weiß gekleidet oder ganz in Schwarz geistert sie schon lange durch meine Bilder,
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    Der liegende Dichter, 1915
    Öl auf Karton, 77 x 77,5 cm London, Tate Gallery
    als Leitbild meiner Kunst.« Voll dichterischer Hingabe gebraucht Chagall Wörter wie »strömen«, »geistern« oder »schweben«, um sein Glück mit Bella, seine Beschwingtheit sprachlich zu fassen. Die taumelnde Schwerelosigkeit, die das Liebespaar der Darstellung auszeichnet, ist eigentlich nur die visuelle Umsetzung der Metapher, die bedeutungstreue Umformulierung des sprachlichen Bildes in ein gemaltes. Das Etikett »Poesie«, mit dem Chagalls Werk immer wieder bedacht wird, hat in dieser Identifizierung von gesprochener und visueller Sprache seine Rechtfertigung.
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    Das Laubhüttenfest, 1916
    Gouache, 33 x 41 cm Luzern, Galerie Rosengart
    Die heitere Unbeschwertheit des Lebens auf dem Lande erträumt sich der Maler mit seiner Braut, den Kopf im Gras, wird der pittoreske Gedanke im Bild lebendig: «Der liegende Dichter« (Abb. links) hat sich ganz lang gestreckt, um sich dem Maß der Bildunterkante anzupassen. Über ihm nun, in der Schwebe lassend, ob es Vision des Poeten oder gemalte Wirklichkeit ist, breitet sich die ländliche Idylle aus: »Endlich allein auf dem Lande. Wald, Tannen, Einsamkeit. Der Mond hinterm Wald. Das Schwein im Stall, das Pferd hinterm Fenster auf den Äckern. Der Himmel lila«, erinnert sich Chagall in »Mein Leben«. Ganz wie bei der Figur des Dichters im Gemälde läßt er auch in seiner Autobiographie offen, ob seine Schilderung einem tatsächlichen Erlebnis folgt oder ob sie nur das Bild beschreibt. Poesie, als hochbewußtes Spiel mit Unschärfe und.,Mehrdeutigkeit, hält sich, genau wie Chagall es hier praktiziert, immer auch durch das Angebot der Vertauschung von Fiktion und Wirklichkeit am Leben. Doch bei aller Koketterie mit der dichteri
    »Nieder mit dem Naturalismus, dem Impressionismus und dem realistischen Kubismus... Geben wir doch unserer Tollheit nach! Ein reinigendes Blutbad ist nötig, eine Revolution der Tiefe, nicht der Oberfläche.«	marc chagall
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    Bella, 1925
    Radierung und Kaltnadel, 22,5 x 11,6 cm
    »Sie brachte mir morgens und abends liebliche hausgebackene Kuchen ins Atelier, gebackenen Fisch, gekochte Milch, bunte Stoffe und sogar Bretter, die mir als Staffelei dienten. Ich öffnete nur mein Fenster, und schon strömten Himmelblau, Liebe und Blumen mit ihr herein. Ganz weiß gekleidet oder ganz in Schwarz, geistert sie lange schon durch meine Bilder, als Leitbild meiner Kunst.«
    MARC CHAGALL in »Mein Leben«
    Bella mit weißem Kragen, 1917
    Öl auf Leinwand, 149 x 72 cm Im Besitz der Erben des Künstlers
    sehen Begabung sind diese Bilder auch Beschwörungsformeln einer heilen Welt, Medien der Flucht aus der rauhen Realität der Kriegsjahre.
    Bald aber holt ihn diese Realität ein. Der Kriegsdienst ist unumgänglich. Um wenigstens der Verschickung an die Front und damit dem sicheren Schaden an Leib und Seele zu entgehen, arbeitet er im Büro von Jakow Rosenfeld, seinem Schwager. Inder Hauptstadt hat dieses Büro kriegswichtige Aufgaben zu erledigen, die Tätigkeit dort ist dem Fronteinsatz gleichgestellt. Mit stupidem Stempeln irgendwelcher Papiere fristet Chagall seine Tage in St. Petersburg, zum Malen ist ihm die Lust vergangen.
    Von der aktuellen Kunstproduktion Rußlands, von dem imponierenden Weg seiner Avantgarde aus regionaler Beschränktheit zu Weltgeltung, hatte Chagall in Paris, wo sich künstlerisch selbst genug ereignete, wenig mitbekommen. Nun, in St. Petersburg, erhielt er Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit den neuen Tendenzen. 1912 hatte er sich an der Ausstellung »Eselsschwanz« beteiligt, sie von Paris aus mit dem Bild »Der Tote« beschickt. Die hier proklamierte Bildauffassung war der seinen nicht unähnlich. So greift Chagall verspätet, 1916, den damaligen »Primitivismus« von Natalija Gontscharowa und Michail Larionow auf, besonders augenscheinlich geworden im Bild »Das Laubhüttenfest« (Abb. S. 41). Bewußt ungelenk wirkende Figuren bewegen sich eckig durch den Bildraum, scheinen appliziert auf einen Untergrund, zu dem sie keine Beziehung haben. Die totalisierende Perspektive eines Kindes hat sie geprägt, entweder vollständig im Profil oder ganz frontal bieten sie sich dar, Zwischentöne und Nuancen unterbleiben, sie passen nicht zu der robusten Einfachheit der Szenerie. Einzig bei der Gestaltung des Daches der Laubhütte, die leise kubistische Reminiszenzen anklingen läßt, demonstriert Chagall, daß der rüde Duktus Manier ist und nicht Unvermögen. Eingesperrt in die kahle Enge der Büros der Kriegswirtschaft kann sich der Künstler nicht zu der beschwingten Choreographie des Pinsels hinreißen lassen, wie sie die von Bella inspirierten Bilder auszeichnet (Abb. rechts). Die markige Hand des »Laubhüttenfestes« entspricht Chagalls Gefühlswelt.
    Das nach eigener Aussage wichtigste Ereignis in seinem Leben wird nicht nur Chagall über Jahre hinaus in Atem halten. Mitten im Zentrum, in der Hauptstadt, erlebte er, wie die Fanale zum Kampf gegen das Zarenregime und seine hoffnungslose Antiquiertheit in die Revolution einmündeten. Binnen jener zehn Tage, die die Welt erschütterten, war St. Petersburg in roter Hand. »So spricht Gott der Herr: Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern in das Land Israel.« Diese Worte aus der Vision des Ezechiel stehen in hebräischen Lettern über der Durchfahrt des »Friedhofstores« (Abb. S. 45), das Chagall genau zu der Zeit gemalt hatte. Eine große Aufbruchsstimmung hatte das ganze Land erfaßt, und so erscheint Chagalls Projektion der alttesta
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    Das Grab des Vaters, 1922
    Blatt 19 der Folge »Mein Leben«
    Kaltnadelradierung, 10,8 x 14,9 cm
    »Mit einem Russenhemd bekleidet, einer Ledermappe unterm Arm, machte ich durchaus den Eindruck eines sowjetischen Funktionärs.«
    MARC CHAGALL in »Mein Leben«
    Die Tore des Friedhofs, 1917
    Öl auf Leinwand, 87 x 68,6 cm Privatbesitz
    mentarischen Prophetie in eine zukunftsfrohe Gegenwart keineswegs blasphemisch. Die Bolschewiken hatten den Krieg beendet, die Juden erfuhren endlich die staatsbürgerliche Gleichstellung mit den Russen. Die Frühzeit der Revolution war geprägt von ungetrübtem Optimismus.
    Anatoli Lunatscharski war von Lenin zum Leiter des Kulturministeriums bestimmt worden. Chagall hatte Lunatscharski in Paris kennengelernt, der Emigrant verdingte sich dort als Journalist für russischsprachige Blätter. Diese Bekanntschaft brachte Chagall im September 1918 einen offiziellen Posten ein, er übernahm das Amt des Kommissars für die bildenden Künste in Witebsk. In den Kindertagen der Revolution stand die Kunst hoch im Kurs, Ästhetik und Politik sollten einander inspirieren bei ihrem Einsatz für eine menschlichere Zukunft. Kunst und Staatsräson, die der Kommunismus in bewußter Opposition zur bürgerlichen Auffassung stets als einander bedingend erachtete, leisteten sich noch die Option zur Verbesserung der Welt, beide wollten noch progressiv, avantgardistisch sein. Der alte Traum der in die Autonomie entlassenen Kunst sollte hier in die Wirklichkeit umgesetzt werden.
    Voller Eifer stürzte sich Chagall auf sein neues Engagement als Berufsästhetiker, organisierte Ausstellungen, eröffnete Museen und setzte den Lehrbetrieb an der Kunstakademie in Witebsk wieder in Gang. Und der eingeschworene Individualist, der resolute Verfechter des Ungewöhnlichen begann auf die anonyme Macht der Gleichheit zu schwören: »Glaubt mir, das verwandelte Arbeitervolk wird bereit sein, den Gipfel der Kunst und der Kulturzu erklimmen.« Chagall bekannte sich uneingeschränkt zum Kommunismus.
    Zum Jahrestag der Revolution sollte, nach Chagalls Entwürfen, Witebsk mit einer farbenprächtigen Jubeldekoration überzogen werden. Obwohl sich Chagall in Bildern wie »Krieg den Palästen« weitgehend an die verordnete Ideologie hielt, war die Reaktion der orthodoxen Genossen einmütig: »Warum ist die Kuh grün, und warum fliegt das Pferd in den Himmel?«, schildert Chagall ihr Unverständnis. »Was hat das mit Marx und Lenin zu tun?« Kaum hatte der Maler begonnen, sich mit der neuen Sache zu identifizieren, schlug ihm schon der sture Anspruch nach politischer Verwertbarkeit seiner Kunst ins Gesicht. »Der Maler: An den Mond«, von Chagall auf 1917 datiert, aber wohl erst 1919 entstanden (Abb. S. 47), reagiert darauf mit dertrotzigen Behauptung künstlerischer Inspiration. Die vertraute Figur des sinnenden, sich seinen Träumen hingebenden Malers schwebt durch das Bild, abgehoben von der Welt in einer Sphäre imaginärer, gleichsam himmlischer Entrücktheit. Mit dem Lorbeer ist sein Haupt bekränzt, das alte Ruhmeszeichen des Dichters soll den Willen des Malers, eigene Wirklichkeiten zu schaffen, sinnreich dokumentieren.