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    Marc Chagall


    Памер: 99с.
    Мінск 1992
    101.96 МБ
    Interieur II (Paar mit Ziege), 1911
    Öl auf Leinwand, 100 x 180 cm Privatbesitz
    »La Ruche«, der Bienenkorb, nannte sich nach seinem zentralen Gebäude, einem zwölfeckigen Pavillon aus Holz, eine Künstlersiedlung in der Nähe der Schlachthöfe. Es war einer jener Orte, die den Ruf von Paris als Metropole der Kunst trugen, Sammelplatz von Malern und Bildhauern aus aller Herren Länder, die den Traum von der internationalen Karriere hier wahrmachen wollten. Im Winter 1911/12 bezog Chagall eines der fast 140 Ateliers, die primitiv und schmutzig waren, aber billig. Etliche Russen waren seine Nachbarn, allen voran Chaim Soutine, der verstockte, stets mißmutige Eigenbrötler, Ostjude wie er selbst. Mit Chagalls Umzug geht eine Änderung seiner Formate einher, den Zuwachs an Wohnraum gegenüber der Kammer am Montmartre nutzt er zur Vergrößerung seiner Bilder. Viele der in »La Ruche« entstandenen Arbeiten sind noch auf 1911 datiert. Chagall hatte sie nicht gleich nach ihrer Beendigung mit einer Jahreszahl versehen, im Rückblick geriet ihm dann die Chronologie seiner Werke etwas durcheinander. Für sich selbst faßte er sein CEuvre immer in Zyklen zusammen, für die er dann nach einer Art inneren Uhr ein Datum bestimmte, unabhängig von der tatsächlich verstrichenen Zeit. Auch bei solch
    Liegender Akt, 1911
    Gouache auf Karton, 24 x 34 cm Sammlung Mr. und Mrs. Eric Estorick
    »Hier im Louvre, vor den Bildern von Manet, Millet und anderen, habe ich begriffen, warum meine Bindung an Rußland und an die russische Kunst so locker gewesen ist. Warum ihnen sogar meine Sprache fremd ist.«
    MARC CHAGALL in »Mein Leben«
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    Der Mann mit dem Schwein, 1922/23
    Lithographie, 46,5 x 32,5 cm
    »Aber vielleicht ist meine Kunst, dachte ich, die Kunst eines Wahnsinnigen, ein funkelndes Quecksilber, eine blaue Seele, die über meine Bilder hereinbricht.«
    MARC CHAGALL in »Mein Leben«
    Ich und das Dorf, 1911
    Öl auf Leinwand, 191 x 150,5 cm
    New York, The Museum of Modern Art
    scheinbaren Lappalien erweist sich Chagall als Meister ironischer Verstellung, der sich in gespielter Geringachtung einer nachvollziehbaren Ordnung nur dem clownesken Gefüge seines Innenlebens verpflichtet fühlt.
    Noch 1911 datiert, aber schon in »La Ruche« gemalt, ist »Ich und das Dorf« (Abb. rechts) das Programmbild von Chagalls Pariser Jahren schlechthin. Hier nun ist die Radialkomposition, die Aufgliederung der Bildstruktur von einem zentralen Punkt her, zum Hauptprinzip erhoben. Ausgehend von Delaunays Scheibenbildern, der die Analogie des Kreises zur Sonne als figurativen Rückhalt für seine ansonsten abstrakten Farbzusammenstellungen nutzt, gelingt Chagall jetzt die Zusammenbindung seiner verschiedenen Realitätsbereichen entnommenen Motive zu einer bildlogischen Einheit. Je einen von vier Sektoren bestimmend, stehen sich archetypisch Mensch und Tier, Natur in der Form des Zweiges und Zivilisation als Dorf gegenüber. Es bedarf keiner Geschichte, keiner Handlung mehr, der geometrische Raster allein, der das gesamte Bild mit Diagonalen und Kreissegmenten überzieht, vermag die Darstellung zu ordnen. Simultanität von Motiven und Transparenz von Formen, zwei der Wundermittel des Kubismus, stellen nun ihre Eignung unter Beweis, Erinnerungsbilder, Visionen, Fragmente verschiedenster Wirklichkeiten der Darstellung im Gemälde zu erschließen. Der Kopf des Lamms, dessen Kontur Raum schafft für die Melkszene, Häuser und Menschen, die auf dem Kopf stehen, Größenverhältnisse, die jeder Erfahrung widersprechen  all diese Elemente, assoziativ dem Bild eingeordnet, stehen ein für eine Wirklichkeit jenseits der sichtbaren Welt, für die Imagination dessen, dem sich Erinnerungen zu Symbolen verdichten. Denn alle Einzelheiten in »Ich und das Dorf« sind dem Gedächtnis entnommen. Chagall bedient sich des Kubismus, der sein Augenmerk so sehr auf die konkrete Erscheinung legt, zur Bildung einer autonomen Welt, abhängig nur von der eigenen Psychologie. »In Paris angelangt, war ich endlich fähig, die irgendwie kulinarische Freude auszudrücken, die ich manchmal in Rußland empfunden hatte  die meiner Kindheitserinnerungen in Witebsk«, schreibt er. Gefühle von Glück und Sehnsucht nach der kleinen Welt seiner Kindheit erst in Paris findet Chagall die Mittel, sein Innenleben zu öffnen.
    Der Titel »Ich und das Dorf« bildet in seiner phantasievollen Prägnanz eine Art literarischen Gegenpol zum gemalten Spiel mit Mehrdeutigkeiten. Er stammt, wie auch beispielsweise »Meiner Braut gewidmet« (Abb. S. 17) oder »Rußland, den Eseln und den anderen« (Abb. S. 25), aus der Feder von Blaise Cendrars, dem wichtigsten Weggefährten Chagalls in den Pariser Jahren. Das suggestive Stakkato von Bildern, das Cendrars in seinen Gedichten und Romanen entwarf, die anarchische Fröhlichkeit seiner Wortschöpfungen entsprechen der assoziativen Wunderwelt Chagalls vielleicht stärker als der doch sehr strenge intellektuelle Schliff seiner Malerkollegen. Literaten waren es, die Chagall in seinem
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    MARC CHAGALL
    »Er schläft Nun ist er wach Ganz plötzlich malt er Greift eine Kirche malt mit einer Kirche Greift eine Kuh und malt mit einer Kuh Einer Sardine
    Mit Schädeln Händen Messern
    Malt mit dem Nervenseil eines Ochsen Allen beschmutzten Leiden kleiner
    Judenstädte Zerquält von Liebesbrünsten aus der Tiefe Rußlands Für Frankreich Tot Herz und Lüste Er malt mit Schenkeln Trägt im Steiß die Augen Da ist es Euer Antlitz Du bist's geliebter Leser Ich bin’s Er ist's Die eigne Braut Der Krämer an der Ecke Die Kuhmagd Hebamme
    In Eimern Blut wäscht man Neugeborne Himmelvoll Irrsinn
    Mäuler sprudeln Moden
    Der Eiffelturm gleicht einem Pfropfenzieher Gehäufte Hände
    Christus
    Er selber Jesus Christus
    Am Kreuz hat er die Jugend lang gelebt Ein neuer Selbstmord jeder neue Tag Ganz plötzlich malt er nicht mehr Er war wach Nun schläft er
    Erdrosselt sich mit einem Schlips Chagall erstaunt
    Ihn trägt Unsterblichkeit«
    BLAISE CENDRARS
    Der Dichter (Halb vier), 1911
    Öl auf Leinwand, 196 x 145 cm
    Philadelphia, Philadelphia Museum of Art
    Weg bestätigten, seinen Hang zur Poesie teilten, mit ihm nach verborgenen Bedeutungen in den Dingen fahndeten. »Ein Genie, gespalten wie ein Pfirsich« nannte Cendrars seinen Freund. Chagall revanchierte sich mit »Der Dichter« (Abb. rechts). Einsam sitzt der Poet an seinem Tisch. Die Kaffeetasse in Händen haltend, neben sich eine Schnapsflasche, die sich ihm gierig entgegenreckt, scheint er gerade einer dichterischen Eingebung zu lauschen. Jedenfalls ist er einer imaginären, übernatürlichen Welt hingegeben, sein Kopf, sein Geist, vom Körper losgelöst, überwindet sogar den Raster der Diagonalen, in den die Bildwelt eingeflochten ist.
    In dieser Hommage für den Cafehausliteraten zeigt Chagall bereits erste Ansätze zur Überwindung der kubistischen Geometrisierung des Bildes. Das Liniengeflecht, bisher nur Garant einer konstruktiven Ordnung, hat hier Aufgaben für die Bildaussage übernommen, spannt es doch die Figur, den Körper des Dichters in sein Netz ein, um den Kopf als Träger der Inspiration um so nachhaltiger von dieser Bindung zu befreien. Die imaginative Kraft des Dichters, seine Unabhängigkeit von einem Ordnungsprinzip, soll Chagalls eigene sein. Geometrische Strukturen werden kurzerhand zu Metaphern, zu Trägern von Poesie.
    »Surnaturel«, übernatürlich, war Guillaume Apollinaires Etikett für Chagalls Bildwelten; später wird er sie dann »surreal« nennen. Vor Chagall wird ein Begriff geboren, der, als Surrealismus, eine veritable Epoche bezeichnen wird. Apollinaire, sein Urheber, war weniger Freund als Mentor für Chagall, unermüdlich versuchte er, ein Ausstellungsforum für ihn zu organisieren. Auch bei ihm bedankte sich Chagall, seine »Hommage für Apollinaire« (Abb. S. 26) kokettiert aber vielleicht etwas zu ehrgeizig mit dem Nimbus des geheimnisvollen Fremdlings, als den ihn Apollinaire gelobt hatte. Im Mittelpunkt der Komposition, deren Kreisform ein angedeutetes Zifferblatt bestätigt, sind Adam und Eva, den Apfel zwischen sich, zu einer Figur verwachsen. Zum Mythos des Androgynen gesellen sich ein Widmungssignet, das in die Namen von Freunden Wortkürzel der vier Elemente projiziert. Auch die eigene Signatur hat Chagall verschlüsselt, Vokale getilgt, kabbalistische Bedeutungen assoziiert. Der etwas mysteriöse Mischmasch von allerlei Geheimlehren mag zwar Chagalls Wunsch nach interkultureller Verbindlichkeit entsprechen, vermitteln läßt er sich aber nur durch die Verwendung von Wörtern und steht damit dichterischen Verfahren näher als malerischen.
    »Ich persönlich glaube nicht, daß wissenschaftliche Bestrebungen der Kunst dienlich sind. Impressionismus und Kubismus sind mir fremd. Kunst scheint mir vor allem ein Seelenzustand zu sein.« Chagalls Unbehagen gegenüber der neutralen Schönheit des Sichtbaren, das er hier Apollinaire gegenüber äußert, seine Ablehnung einer »Epoche, die Hymnen auf die Technik singt und die den Fortschritt vergöttlicht«, schlägt sich zunehmend in seinem Werk nieder. Bilder wie »Adam und Eva« (Abb. S. 29), 1912 datiert,
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    »Chagall ist ein sehr begabter Kolorist und gibt sich allem hin, wozu seine mystische und heidnische Imagination ihn treibt: Seine Kunst ist sehr sinnlich.«
    GUILLAUME APOLLINAIRE
    »Ich erinnere mich an den ersten Besuch von Apollinaire in meinem Atelier in >La Ruche« im Jahre 1912. Vor meinen Bildern aus der Zeit von 1908 bis 1912 gebrauchte er das Wort >Surnaturalisme«. Ich konnte nicht ahnen, daß 15 Jahre später die surrealistische Bewegung kommen würde.«
    MARC CHAGALL
    Rußland, den Eseln und den anderen, um 1911/12
    Öl auf Leinwand, 156 x 122 cm Paris, Musee National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou
    die in der sezierenden Durchdringung der Figur noch ganz der Eigendynamik malerischer Formen huldigen, sind nur für eine kurze Spanne in Chagalls Werk repräsentativ. Bald setzt sich wieder der kindlichnaive Blick auf die Magie der Welt durch, die Abenteuersuche nach der geheimen Botschaft in den Dingen. Die Kindheitserlebnisse, die Chagall in seiner Bildwelt spiegelt, sind dabei ja eingebettet in die Traditionen seiner Herkunft, in das antirationale Denken Rußlands und die strikte Bilderlosigkeit des Judentums. Chagalls Szenerien sind in diesem Sinn nie isoliert von einer mystischen Gedankenwelt, die die Motive erst zu Symbolen, zu Stellvertretern einer unsichtbaren Wirklichkeit macht.