Marc Chagall
Памер: 99с.
Мінск 1992
»Ich fand das Haus voll von ernsten Männern und Frauen, deren schwarze Massen das Tageslicht verschleierten. Lärm, Geflüster; plötzlich der durchdringende Schrei eines Neugeborenen. Mama, halbnackt, liegt im Bett, blaß, zartrosa. Mein jüngster Bruder kam zur Welt.« Im Jahre 1910 verarbeitet Chagall dieses Erlebnis, das er in »Mein Leben« beschreibt, zum Bild »Die Geburt« (Abb. S. 11), ein Schlüsselwerk seiner Frühzeit in Rußland. Wie auf einer Bühne, dramatisch ausgeleuchtet, wie er es bei Bakst, der viele Theaterdekorationen entwarf, gelernt hatte, ist das Geschehen in Szene gesetzt. Links, durch den roten Baldachin hervorgehoben, das Kindbett mit drastisch blutverschmiertem Laken und der erschöpften Mutter. Die hieratische Gestalt der Amme hält linkisch das Neugeborene. Unter dem Bett kauert die bärtige Figur eines Mannes, vielleicht der Vater. Neugierige, Bauern, drängen von rechts ins Zimmer, ein alter Jude führt eine Kuh; auch durch die Fensterscheibe nehmen einige Besucher am Geschehen Anteil.
Das traditionelle Personal einer »Geburt Christi« ist hier versammelt, die Heilige Familie, die Amme und die Hirten, die sich teilnahmsvoll nähern. Doch jeder Plauderton, alles Anekdotische, das die biblische Erzählung anbietet, ist getilgt. Eine strenge Tektonik trennt den linken, der Geburtsszene und den beiden Frauen vorbehaltenen Bildteil von der rechten Seite mit den Männern, die nur Zuschauer sind. Das persönliche Erlebnis, wie in »Mein Leben« dargestellt, das alltägliche Geschehen einer Geburt, der Verweis auf das christliche Thema sind eingegliedert in ein umfassendes Ordnungsprinzip, fundamental und unabhängig von einem bestimmten kulturellen Wissen.
Der für Chagalls Frühwerk typische, auch aus seiner Biographie erklärbare Versuch, gedankliche Grenzen zu überwinden und Synthesen herzustellen, zeigt sich im Bild »Die Geburt« wohl am ambitioniertesten. So klar und stringent die Bildlogik auch sein mag, die formale Lösung ist alles andere als befriedigend. Das Bild zerfällt in zwei Hälften. Auf seiner Suche nach einer visuellen Sprache, die der Kompliziertheit seiner Konzepte zu entsprechen vermochte, konnte die russische Kunst, selbst noch in den Kinderschuhen, Chagall keine Anregungen mehr liefern. Antworten finden konnte er nur in der Hauptstadt der Kunst, in Paris.
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Die Pariser Jahre 1910 1914
Rußlands junge und hoffnungsvolle Kunstszene hatte eher noch als im eigenen Land in Paris Resonanz gefunden. Das »Russische Ballett« Sergei Diaghilews und sein Troß von Tänzern, Musikern, Schriftstellern und Malern hatten hier Furore gemacht mit ihrer Mischung aus Exaltiertheit und Exotik, hatten Sehnsüchte geweckt nach der Weite des Ostens. Rußland war sozusagen in Mode. Alexej von Jawlensky, Wassily Kandinsky, Jacques Lipchitz, all die Künstler, die später Weltruhm erlangten, nutzten dies, um die Moderne am Ort ihrer Entstehung kennenzulernen. Bakst war 1909 als Mitarbeiter Diaghilews angereist. Im Herbst 1910 nahm auch Chagall die viertägige Bahnreise auf sich, ausgestattet mit einem kärglichen Stipendium seines Petersburger Gönners Max Winawer und mit der Hoffnung, bei der vielköpfigen russischen Kolonie in Paris weitere Unterstützung zu finden. Am Montmartre, in der Wohnung eines Landsmannes, bezog er sein erstes Atelier.
»Nur die Entfernung, die zwischen Paris und meiner Heimatstadt liegt, hat mich davon abgehalten, sofort wiederzurückzukehren«, beklagt sich Chagall noch in seinen Erinnerungen über die neuen Lebensumstände, mit denen das Kind vom Lande nicht zurechtkam. So stürzte er sich in die Kunst, lief die Galerien ab, betrachtete die Impressionisten bei Paul DurandRuel, sah Gauguin und Vincent van Gogh in der Galerie Bernheim zum erstenmal im Original, staunte über Matisse im Herbstsalon und entdeckte vor allem die alten Meister: »Der Louvre hat dieser ganzen Unschlüssigkeit ein Ende gesetzt.« Bilder wie »Das Modell« (Abb. links), bald nach der Ankunft entstanden, stehen denn auch ganz im Zeichen seiner Auseinandersetzung mit der französischen Maltradition. Zwar behält Chagall hier noch die dunkle Tonigkeit der russischen Bilder in seiner Palette bei, doch der pastose Farbauftrag, das fransenartige Nebeneinander bunter Striche orientieren sich an den aktuellen Farbtheorien. Eine Atelierdarstellung und damit die Reflexion des eigenen Tuns hat sich Chagall zum Thema genommen. Sein Modell aberhält seibsteinen Pinsel in der Hand, malt an einem eigenen Bild als Metapher für eine Atmosphäre alle erfassender Kreativität, für ein künstlerisches Engagement, das in den Alltag ausgriff: »Vom Markt angefangen, auf dem ich mir mangels
Selbstbildnis, 1910
Feder und schwarze Tusche auf Papier, 14,7 x 13,1 cm
Im Besitz der Erben des Künstlers
Das Modell, 1910
Öl auf Leinwand, 62 x 51,5 cm Sammlung Ida Chagall
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Selbstbildnis mit Ziege, 1922/23
Lithographie, 41 x 26,4 cm
»Damals hatte ich erkannt, daß ich nach Paris gehen mußte. Die Erde, die die Wurzeln meiner Kunst genährt hatte, war Witebsk; aber meine Kunst brauchte Paris so nötig wie ein Baum das Wasser. Ich hatte keinen anderen Grund, meine Heimat zu verlassen, und ich glaube, ihr in meiner Malerei immer treu geblieben zu Sein.« MARC CHAGALL
Meiner Verlobten gewidmet, 1911
Gouache, Öl und Wasserfarben
auf Papier, 61 x 44,5 cm
Philadelphia, Philadelphia Museum of Art
Geld nur ein Stück von einer langen Gurke kaufte, über den Arbeiter in seinem blauen Kittel bis zu den eifrigsten Jüngern des Kubismus zeugte alles von einem sicheren Gefühl für Maß und Klarheit, von einem exakten Sinn für die Form«, beschreibt Chagall dieses Flair des Schöpferischen. Daran wollte er sich nun anschließen.
Chagall nährte nach Kräften die Legende von seiner Armut. Nicht nur die Gurke, von der er sich nur ein schmales Stück leisten konnte, nicht nur der Hering, von dem er heute den Kopf, morgen den Schwanz verzehrte, auch die Bilder, die in dieser frühen Pariser Zeit entstanden, sollen davon zeugen. Viele von ihnen haben nämlich ein bereits bemaltes Stück Stoff als Träger, geschickt benutzte Chagall dabei die vorhandenen Helldunkelkontraste zur Gestaltung der eigenen Lichteffekte. Die Verwendung alter Leinwand eignete sich zwar zur Demonstration der ständigen Geldknappheit, viel mehr aber verselbständigte sie sich in der Zeit zum Ausdrucksmittel. Sie wurde zu einem der Kunstgriffe der Kubisten.
»Interieur II«, 1911 datiert (Abb. S. 18), zeigt erste zaghafte Anpassungen an die Formensprache des Kubismus. Doch um die Mitte des Bildes, zu der sich eckige Flächen, den Rocksaum der Frau und die Tischkante markierend, zusammenfügen, um dieses abstrakt anmutende Zentrum entwickelt sich eine gemalte Erzählung. Eine Frau fährt in wildem Ungestüm, eine Ziege hinter sich her zerrend, auf einen vollbärtigen Mann los, der recht ängstlich auf einen Stuhl gekauert sich des Angriffs erwehren will, indem er die Frau am Schenkel faßt. Die Bedrängtheit des Mannes, die wütende Triebhaftigkeit der Frau werden erfahrbar durch den jahrhundertealten kompositionellen Trick der Leserichtung. Der beruht auf der Gewohnheit, ein Bild analog zur Lektüre von Geschriebenem als Bewegungsablauf von links nach rechts zu deuten.
Eine zeitgemäßere Version für die gleiche Thematik, in der Behandlung von Sexualität wieder archetypisch, findet Chagall aber in »Meiner Braut gewidmet« (Abb. rechts), zur selben Zeit entstanden. Hier erst entwickelt sich trotz eines völlig in sich ruhenden, die Statik des Mediums Bild berücksichtigenden kompositionellen Aufbaus die ganze Drastik des Motivs: die Frau, die sich schlangengleich um die Schultern des stierhäuptigen Mannes windet und ihm ins Gesicht spuckt; der Mann, der gelassen scheint, dessen Griff an ihr Bein aber nun zupackend und nicht mehr abwehrend wirkt. Geschichte und ihr symbolischer Gehalt sind nun voneinander untrennbar; nicht nur dadurch, daß Mensch und Tier in eins gefallen sind, sondern vor allem durch die radiale Bewegung, die die Frau zur Demonstration ihrer Macht vollführt und der zu entgehen für den Mann ausweglos erscheint. Die Darstellung als harmlose Genreszene zu verstehen ist hier, im Gegensatz zu »Interieur II«, nicht mehr möglich. Chagall gelang es zum Beispiel erst nach längeren Streitigkeiten, das Bild auf dem Frühjahrssalon 1912 ausstellen zu dürfen. Es sei pornographisch, lautete der Vorwurf. Es war eine simple kompositorische Variante, die dem Bild zu
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»In Paris ging ich weder zur Kunstakademie noch zu Professoren. Die Stadt selbst war auf Schritt und Tritt meine Lehrmeisterin, in allem. Die Händler vom Markt, die Kellner, die Hotelportiers, die Bauern, die Arbeiter. Sie umgab etwas von jener erstaunlichen Atmosphäre von aufgeklärter Freiheit (>lumiereliberte<), die ich nirgendwo anders gefunden hatte.«
MARC CHAGALL
seiner dreisten Anzüglichkeit verhalf, nämlich die Motive kreisförmig um ein Zentrum anzuordnen, statt sie in einer Richtung zu addieren. Chagall hatte dieses Verfahren dem Kubismus abgeschaut. Bei ihm wird er die Lösung finden für viele Probleme der Frühzeit.
Weniger über Pablo Picasso oder Georges Braque, die Gründerväter, stellte sich Chagalls Kontakt zum Kubismus her, als vielmehr über Robert Delaunay, der mit der russischen Malerin Sonia Terk verheiratet war. Chagall und Delaunay teilten nicht jenen sezierenden Blick auf die Dinge, beiden galt die einsame Würde des konkreten Gegenstandes wenig, die die orthodoxen Kubisten veranlaßt hatte, auch die bemalte Leinwand zum Gegenstand zu erheben. Nur in zweiter Linie auch war es ihnen um die Ambivalenz zwischen Abstraktheit und Abbildung zu tun, um jenes ganzheitliche Verfahren, bei dem Braque und Picasso die banale Betrachtung eines Dings ergänzt wissen wollten durch die dem Alltag entnommene Kenntnis seines Gebrauchs. Der Kubismus war für Delaunay, war besonders für Chagall die Sprache, in der sich die Magie der Welt, das geheime Eigenleben der Dinge jenseits aller Funktionalität, ausdrücken ließ. Erstellte geometrische Rasterzur Verfügung, Ordnungsinstanzen, die Erträumtes und Erlebtes, Wünsche und Visionen umsetzbar machten in eine allgemein nachvollziehbare bildliche Logik. Die imaginierten Wirklichkeiten waren kompliziert genug. Die Gesichte des kleinen Russen, die in Paris zum Ausdruck drängten, fanden erst in der Komplexität kubistischer Formen das ihnen gemäße Medium.