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  • Marc Chagall

    Marc Chagall


    Памер: 99с.
    Мінск 1992
    101.96 МБ
    Nicht zuletzt weil Witebsk von den bald grassierenden Hungersnöten recht und schlecht verschont geblieben war, konnte die dortige Kunstakademie unter ihrem Direktor Chagall bald eine ein
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    Das bäuerliche Leben (Der Stall; Nacht; Mann mit Peitsche), 1917
    Öl auf Karton, 21 x 21,5 cm
    New York, Solomon R. Guggenheim Museum
    drucksvolle Liste an berühmten Lehrern aufweisen. Die Creme der russischen Avantgarde zog nach und nach in die Provinz, erlauchte Namen wie El Lissitzky und Kasimir Malewitsch brachten den Ruch der Boheme in die Stadt. Bald beginnen die Richtungskämpfe um die wahre Kunst der Zukunft Chagall in Atem zu halten. 1915 hatte Malewitsch mit seinem »Schwarzen Rechteck auf weißem Grund« für großes Aufsehen gesorgt, war weltweit zu einem der führenden Köpfe der Malerei avanciert. Das vergeistigte Gleichgewicht abstrakter Farbfelder, das Malewitsch als »reine Malerei« propagierte, sein Postulat, die Kunst müsse jeden Bezugspunkt in der
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    äußeren Wirklichkeit aufgeben, waren Chagall ein Dorn im Auge. Während einer Moskaureise Chagalls fand die Palastrevolution statt. Er wurde abgesetzt, die freie Akademie zur »suprematistischen« erklärt. Nach seiner Rückkehr fand er sich zwar bald wieder in Amt und Würden, doch tiefes Mißtrauen in die Revolution und die von ihr vertretene Kunstauffassung hatte sich in ihm festgesetzt. Im Mai 1920 verließ Chagall mit seiner Familie Witebsk, um sich in Moskau niederzulassen.
    Ganz allerdings hatte auch er sich nicht Malewitschs Einfluß entziehen können. Besonders »Das bäuerliche Leben« (Abb. links),
    Der Maler: An den Mond, 1917 Gouache und Aquarell auf Papier, 32 x 30 cm
    Basel, Sammlung Marcus Diener
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    Der Musiker, 1922
    Supplementblatt zur Folge »Mein Leben«
    Kaltnadelradierung, 27,5 x 21,6 cm
    Der grüne Geiger, 1923/24
    Öl auf Leinwand, 198 x 108,6 cm New York, Solomon R. Guggenheim Museum
    1917 datiert, 1919 noch in Witebsk entstanden, baut auf die meditative Balance monochromer geometrischer Formen, die Malewitsch programmatisch entworfen hatte. Dieses abstrakte Gerüst bevölkert Chagall aber dann mit seinem Standardpersonal, interpretiert die Farbflächen um zu Bereichen von Wirklichkeit, in denen archetypisch der Mann mit der Peitsche und die Frau mit dem Tier sich gegenüberstehen. Die ruhige Ordnung der Geometrie, die auch für Malewitsch Metapher war für Innenwelt, konkretisiert Chagall zum Grundmuster, zum Minimalbestand an Motiven für die Ausarbeitung einer Genreszene.
    In äußerster Armut fristet die Familie in der neuen Hauptstadt ihr Dasein. Seiner Vorliebe für die Bühne folgend ließ sich Chagall vom »Jüdischen Theater« Moskaus für Ausstattungsarbeiten engagieren, mehr als die allernötigsten Lebensmittel bekam er dafür nicht. Für Foyer und Theaterraum schuf er monumentale Wandbilder, Allegorien auf die Hauptelemente der Dramatik. »Der grüne Geiger« von 1923/24 (Abb. rechts) ist eine Replik des Wandbildes »Musik«, die exakte Verkleinerung des Originals im MoskauerTheater. Die vertraute Gestalt des Geigers hat für Chagall nichts von ihrer Suggestionskraft verloren, ist wieder Beschwörungsformel in einer Zeit tiefer Depression.
    Die Unterstützung, die der Staat den Künstlern zukommen ließ, war abgestuft nach der politischen Brauchbarkeit des jeweiligen Werks. Chagall landete in der Stipendienhierarchie ziemlich weit unten, war doch niemand anderer als Malewitsch verantwortlich für die Klassifizierung der Künstler. Und Malewitsch hielt nicht viel von seinem Kollegen. »Ich denke, die Revolution könnte eine große Sache sein, wenn sie die Achtung vor dem anderen bewahrte«, schrieb Chagall damals in »Mein Leben«, dessen Manuskript vor der Vollendung stand. Genau diesen Respekt vor seiner Neigung zum Außergewöhnlichen vermißte er am neuen Status quo, die totalitäre Tendenz zur Gleichschaltung hatte nicht haltgemacht vor seinen Appellen an die Macht der Phantasie. Kein Geld, kein Erfolg, keine Perspektive  nichts hielt Chagall mehr in dem Staat, der nun Sowjetunion hieß. Lunatscharski besorgte der Familie den Paß für die Ausreise.
    Chagall erinnerte sich an den Berliner Galeristen Walden und an den Erfolg, der ihm lange Jahre verwehrt geblieben war. In Berlin wollte er nun an die Aufbruchszeit anknüpfen und mit dem Erlös seiner Bilder seine Karriere finanziell absichern. Als er im Sommer 1922 in Berlin eintraf, galt sein Name tatsächlich einiges im Westen. Walden hatte die von Chagall in Berlin zurückgelassenen Bilder auch verkauft und das Geld auf ein Konto eingezahlt. Mittlerweile aber wütete die Inflation in Deutschland, und das Geld war wertlos geworden. Chagall stand nun gleichsam vor dem Nichts  ohne Geld und ohne Bilder. Vor Gericht klagte er und erhielt als Entschädigung schließlich einige wenige Bilder, die man rasch zurückkaufte. Er mußte buchstäblich von vorn beginnen.
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    Frankreich und Amerika 1923  1948
    In dieser Situation des Umbruchs und des Aufbruchs von Moskau nach Paris wird auch Chagalls Erinnerungsbuch «Mein Leben« verständlich, dessen Manuskript er 1922 beendet hatte. In dieser Autobiographie hält der nicht einmal Vierzigjährige Rückschau auf eine nicht eben ereignislose Vergangenheit, gibt sich selbst Rechenschaft über sein Leben. Jene sanfte Ironie erfüllt sie, die aus der autonomen Welt seiner Bilder tagebuchartige Signaturen der Kindheit macht. Chagalls Kunst ist verschollen, verschüttgegangen in den Kanälen des Marktes, seine Erinnerungen aber sind lebendig.
    Das Buch sollte bei Paul Cassirer in Berlin erscheinen, als Lebenszeichen auch für seine alten Freundeln Frankreich. Doch es blieb zunächst bei einer Mappe mit zwanzig Radierungen, mit denen Chagall seinen Text illustriert hatte; die Buchausgabe kam erst 1931 in Paris heraus, Bella hatte den russischen Text ins Französische übersetzt. Doch dergroße Pariser Kunsthändler Ambroise Vollard, Mentor der Kubisten und väterlicher Freund vor allem Picassos, gibt ihm den Auftrag, Nikolai Gogols »Die toten Seelen« zu illustrieren. Am 1. September 1923 bricht Chagall in Paris zu einer neuen künstlerischen Karriere auf.
    »Was mir zuerst in die Augen sprang, war ein Trog. Einfach, wuchtig, halb hohl, halb oval. Ein Trog vom Trödelmarkt. Einmal drin, füllte ich ihn ganz aus.« Mit diesen Worten beginnt »Mein Leben«. »Der Wassertrog« (Abb. S. 52), der die Anfangszeilen der Erinnerungen aufgreift, steht exemplarisch für die Befangenheit an die alten Zeiten, die Chagall nicht losließ. Die Reminiszenzen an Rußland mögen durch die Beschäftigung mit seinem Landsmann Gogol forciert worden sein. Doch ist diese Motivik nun, da Chagall zunehmend berühmter wird, auch ein Markenzeichen geworden, weniger ein Verweis auf die Welt des »Schtetl« als ein Selbstzitat. Synchron beugen sich die Frau und das Schwein über den Trog. Der gleiche lange Rücken, die gleiche Darbietung ihrer Köpfe im Profil, dergleiche Drang nach dem Wasser zeigen augenzwinkernd Mensch und Tier verwandtschaftlich verbunden. Über die nun ganz vereinheitlichte Szene, die in ihrer Absurdität wie ein Detail aus den früheren Zustandsschilderungen der Ferne wirkt, zieht die feine
    Der Spaziergang, 1922
    Supplementblatt zur Folge «Mein Leben« Kaitnadelradierung, 25 x19 cm
    Die drei Akrobaten, 1926
    Öl auf Leinwand, 117 x 89 cm Privatbesitz
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    Der Wassertrog, 1925
    Öl auf Leinwand, 99,5 x 88,5 cm Philadelphia, Philadelphia Museum of Art
    Lasur der Farbe, das subtile Kolorit, das sich unmißverständlich als französisch ausgibt. Zwei Fassungen existieren von dem Bild, voneinander unterschieden durch die Farbkombination. Wie eine Folie legt sich die typisch westliche Sensibilität für den Stimmungsgehalt
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    Das bäuerliche Leben, 1925
    Öl auf Leinwand, 101 x 80 cm
    Buffalo (N.Y.), AlbrightKnox Art Gallery
    des Kolorits vor die deftige Motivik der Heimat. Diesen Kunstgriff wird Chagall in den folgenden Jahren vervollkommnen.
    Zwei Versionen eines Gemäldes herzustellen lag Chagall in dieser Frühzeit in Paris besonders am Herzen, so als wollte er durch
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    Der Hahn und die Perle, um 19271930
    Tafel 11 der Illustrationen zu den »Fabeln« La Fontaines (gedruckt 1952) Radierung, 30,2 x 22,8 cm
    Der Hahn, 1929
    Öl auf Leinwand, 81 x 65 cm LuganoCastagnola, Sammlung ThyssenBornemisza
    die Verdopplung eines Bildes seine Existenz absichern gegen die begehrlichen Griffe des Marktes. Viele der verschollenen Arbeiten begann er nun auch, nach Reproduktionen oder aus dem Gedächtnis, neu zu schaffen. Nicht nur um die Verluste der Kriegszeit auszugleichen und die schlimmen Ereignisse in seiner Kunst ungeschehen zu machen, mag er diese Wiederholungen in Angriff genommen haben, sondern auch aus der Vorstellung heraus, daß in die Bilder ein Stück seines eigenen Ich eingegangen sei. Dies ist beileibe keine Selbststilisierung. Sie entspringt vielmehr einem tiefen Vertrauen in die Macht des Bildes, aus dem heraus das Judentum gerade Darstellungen religiöser Dinge untersagt hatte. Bilderverbot und Bilderkult sind Kehrseiten einer Medaille. Der Jude Chagall zeigt sich hier tief verwurzelt in den Traditionen seines Volkes. Die alte Magie des Bildes, von ihm gern mit dem unübersetzbaren Ausdruck »Chimie« bezeichnet, lebt fort in Chagalls Weigerung, seine Werke als Objekte marktstrategischer Verfügbarkeit preiszugeben. Seine Anpassungsfähigkeit an das Publikum, die er zweifellos in stärkerem Maße besaß als die meisten seiner Kollegen, machte halt vor der selbstverständlichen Autorität des vollendeten Bildes.
    Die Motivik von »Ich und das Dorf« (Abb. S. 21), eines der Bilder, von denen Chagall eine Zweitfassung erstellte, greift »Das bäuerliche Leben« (Abb. S. 53) von 1925 auf. In einen visionären Bildraum sind auch hier jene Vertreter behaglicher Ländlichkeit gestellt, die als Personifikationen der Einfachheit archetypische Bedeutung annehmen: Mensch und Tier, Gemütlichkeit und Idylle bilden die lapidaren Requisiten des Genres. Doch anstelle eines geometrischen Ordnungsschemas, das in dem früheren Bild die Gegenüberstellung der Motive gewährleistete, bestimmt nun die freie Assoziation die Komposition der Bildelemente. Der Mann, der dem Pferd zu fressen gibt, das Tier, dessen Profil die Plattform des Hauses konstituiert, addieren sich nun aneinander, anstatt sich zu kontrastieren. Wenigerdas rustikale Leben in Rußland, zu dessen Verklärung im Bild Chagall nach den Erlebnissen während der Revolution weit weniger bereit war als früher, stand also Pate für die Darstellung als ein eigenes Bild. Der atmosphärische Gehalt der Farbe und die Auflockerung des starren Schemas kommentieren dabei die eigene Frühzeit im Sinne der nun aktuellen Kunsttendenzen. Der Surrealismus hat den Kubismus abgelöst, Chagall sucht Anschluß daran in der Befreiung von selbstauferlegten Rastern, im leichtfertigen Bekenntnis zur Unordentlichkeit, wie sie Träume auszeichnet.