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  • Marc Chagall

    Marc Chagall


    Памер: 99с.
    Мінск 1992
    101.96 МБ
    »Mit Chagall, und mit ihm allein, erlebte die Metapher ihren triumphalen Einzug in die Malerei.« Spät noch, 1945, sang Andre Breton sein Loblied auf Chagalls poetische Qualitäten. Doch trotz dieser Eloge ihres Cheftheoretikers blieb Chagalls Verhältnis zu den Surrealisten zwiespältig. Lange Zeit vor ihnen, angeregt von der elementaren Kraft der Volkskunst seiner Heimat, hatte er die
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    Bedeutung des Traumes, der Vision, des Vernunftwidrigen für sein Werk entdeckt. Die Surrealisten, deren antirationale Kunstauffassung aus ähnlichen Quellen schöpfte, versuchten des öfteren, ihn für ihren Kreis zu gewinnen. Chagall jedoch empfand ihre Huldigungen vor der Macht des Unbewußten zu sehr als geschmäcklerische Attitüde, als gewollte Zurschaustellung des Unlogischen, als daß er sich mit ihnen hätte identifizieren können. Sein künstlerisches Kredo kam tatsächlich von Herzen: »Unsere ganze innere Welt ist Realität, vielleicht sogar realer als die sichtbare Welt. Wenn man alles, was einem unlogisch vorkommt, Phantasie oder Märchen nennt, beweist man damit nur, daß man die Natur nicht verstanden hat.« Seinen Träumen verhaftet zu sein und trotzdem die Wirklichkeit gutzuheißen war für ihn kein Widerspruch.
    In der Avenue d’Orleans, in dem Appartement, das schon Lenin als Unterkunft gedient hatte, konnte die Familie Wohnung beziehen. Vollgestellt mit orientalischem Ausstattungszauber waren die Räume eine Enklave des Exotischen in der kühlen Atmosphäre der Großstadt. Teppiche und Liegekissen beherrschten sie, das Ambiente glich sich dem Bild an, das Chagall seinem Publikum bot. Die Aura des Fremden, Geheimnisvollen, die sich in seiner Motivwelt präsentierte, griff nun mehr und mehr auf die Person des Künstlers über, wurde Medium der Selbstdarstellung, die seine Karriere zunehmend zu begleiten hatte. 1924 hatte Paris die erste Retrospektive Chagalls gesehen, 1926 bekam er die erste Ausstellung in New York. Spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre waren die Visionen des Jungen aus der russischen Provinz öffentliche Angelegenheiten geworden. Nicht nur im Lebensstil, auch im Werk machen sich nun subtile Momente der Anpassung an die Vorstellungen eines breiter gewordenen Publikums geltend.
    Mit einem letzten athletischen Sprung bewegt sich der mittlere der »Drei Akrobaten« auf den Bühnenrand zu, um Applaus und Blumen entgegenzunehmen. Immer schon hatte Chagall die träumerische Welt des Zirkus bewundert, war betört von seinem feinen Zusammenklang von Tanz, Theater, Musik und Sprache. Das Bild von 1926 (Abb. S. 50) ist das früheste Beispiel für Chagalls Umsetzung der Zirkusthematik in ein Gemälde. Die relativ späte bildnerische Auseinandersetzung mit einem Motiv, dem von jeher seine Zuneigung gegolten hatte, mag gerade in dem Anpassungsdruck begründet liegen, dem er nun ausgesetzt war. Jetzt erst schien er bereit zu sein, seine visionäre Bildsprache auf ein Thema, auf einen Erlebnisbereich anzuwenden, bei dem das Visionäre sowieso Charakteristikum ist. Zauberhaftigkeit des Motivs und Zauberhaftigkeit der visuellen Gestaltung stehen sich nun gegenseitig im Wege, drohen sich zu neutralisieren. Anders als Picasso, der seine Gaukler und Harlekine gnadenlos mit der Wirklichkeit konfrontierte, kämpft Chagall bei seinen Akrobatenbildern mit der Tautologie.
    An den großen Spanier läßt nicht nur die Thematik, sondern auch die Klarheit, die fast klassische Kühle der Darstellung denken.
    AN MARC CHAGALL
    »Esel oder Kuh Hahn oder Pferd
    Bis hin zum Leib einer Geige Singender Mann ein einziger Vogel Tanzend behende mit seiner Frau
    Paar eingetaucht in seinen Frühling
    Gold des Grases Blei des Himmels
    Getrennt durch blaue Flammen
    Von der Frische des Taues
    Das Blut es schillert das Herz es schlägt
    Ein Paar der erste Widerschein
    Und in einem Schneegewölbe
    Zeichnet der volle Rebstock
    Ein Gesicht mit Lippen aus Mondlicht Das nachts nie schläft«
    PAUL ELUARD
    Die Liebenden im Flieder, 1930
    Öl auf Leinwand, 128 x 87 cm
    New York, Sammlung Richard S. Zeisler
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    Drei Akrobaten, 1926
    Radierung und Aquatinta, 34,2 x 37,3 cm
    Die Akrobatin, 1930
    Öl auf Leinwand, 65 x 32 cm
    Paris, Musee National dArt Moderne, Centre Georges Pompidou
    Die Rahmung der mittleren Figur durch die kleineren außen, das Aufgreifen dieser Dreieckskomposition durch den baldachinartigen Vorhang, die robuste Körperlichkeit der statuarisch wirkenden Gestalten formieren sich zu einer fast akademischen Ausgewogenheit, in der sich ein jahrhundertealter Schönheitskanon geltend macht. Auf der Nachprüfbarkeit der künstlerischen Virtuosität an der Bildtradition liegt nun der Schwerpunkt der Gestaltung, das Chaos der zum Ausdruck drängenden Gesichte wird unterdrückt zugunsten der zeitlosen Norm einer klassischen Schlichtheit. Das Bild behält das atmosphärische Fluidum Chagallscher Prägung, doch es haftet ihm auch etwas an von einer geschmäcklerischen Tendenz zum Altmeisterlichen.
    »Picasso, das bedeutet den Triumph der Intelligenz, Chagall die Glorie des Herzens«, zitiert Franz Meyer, Chagalls Biograph, ein Bonmot über die Charakteristika der beiden Künstler, die nun lockeren Umgang miteinander pflegten. Die träumerische Eleganz des Liebespaares im Gemälde »Der Hahn« (Abb. S. 55), in dem die monumentale Gestalt des Vogels den Liebhaber ersetzt hat, ist denn auch in jenes Zwischenreich versetzt, das sich nur als Stimmung, als Gefühlslage erschließt. Das selige Glück der beiden teilen zwei weitere Paare, entrückt in den Bildhintergrund und entrückt in die Geborgenheit ihrer Zuneigung.
    Die Liebeslyrik, die Chagall hier schreibt, die zärtliche Beschwingtheit, die seiner eigenen Gefühlslage entsprach, findet ihren Höhepunkt im Bild »Die Liebenden im Flieder« von 1930 (Abb. S. 56). Idyllisch gebettet in einen riesigen Blumenstrauß gibt sich das Paar der Zeitlosigkeit seiner Beziehung hin. Zwei seinerzentralen Bildmotive hat Chagall hier ineinander projiziert, einer uralten Bildsprache folgend. Eine Ikone, die Darstellung der Madonna Platytera, stand Pate dafür, das Bild der schwangeren Muttergottes, der das Kind zur Verdeutlichung auf den Bauch gemalt ist. Schon bei der Gestaltung der Stute, die ihr Fohlen im Leib trägt (»Der Viehhändler«, Abb. S. 31), hatte sich Chagall an dieses Schema gehalten. Nun hat eres abstrahiert, es als Muster verwendet für die Erklärung der symbolischen Gehalte, die seine Motive stets begleiten. Zweifellos vereinfacht dieses Verfahren die Dechiffrierung der Bildinhalte, trägt bei zu der Popularisierung, die seine Arbeiten in dieser Zeit ergriff. Durch diesen Wunsch nach Verständlichkeit haftet den Bildern allerdings auch ein Hang zum Romantischen an, der verspätet erscheint.
    Doch die erste Dekade in Paris war, wie er gesteht, »die glücklichste Zeit meines Lebens«. Ein Vertrag mit dem Kunsthändler Bernheim hatte ihn allerfinanziellen Sorgen entledigt, die Familie konnte sich nun den Umzug in eine Villa leisten, Sommeraufenthalte in Südfrankreich wurden zur Selbstverständlichkeit. Mit dem aufwendigeren Lebenswandel, dem privaten Glück, geht in Chagalls Werk der forcierte Griff nach dem Kostbaren einher. Die unbeschwerte Einfalt der Bilder ist ein Reflex auf die Sorglosigkeit der
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    Die Revolution, 1937
    Öl auf Leinwand, 50 x 100 cm Im Besitz der Erben des Künstlers
    Lauf der Welt setzt er Zeichen der Betroffenheit. Im Jahr, in dem die Nationalsozialisten Deutschland mit ihrer barbarischen Ideologie überziehen, verdrängt die Realität mit grausamer Macht jede heitere Ausgelassenheit aus Chagalls Bildwelt.
    «Einsamkeit« hatte noch mit Chagalls ureigenen Motiven auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die ihn, sein Volk und ganz Europa bedrohten. Nicht die Erzählung, sondern die Atmosphäre des Bildes hatte die neue düstere Weitsicht getragen, darin noch den Stimmungsbildern der zwanziger Jahre verhaftet. Eine Polenreise im Frühjahr 1935 überzeugte Chagall endgültig von einer Übermacht der politischen Wirklichkeit, der sich seine Motivwelt nicht mehr verschließen konnte. Tief erschüttert sah er das Warschauer Getto und war Augenzeuge, wie sein Freund Dubnow auf offener Straße als »Drecksjude« beschimpft wurde. Die Welt des Judentums war nicht mehr der verträumte, enge Hort zeitloser Selbstgenügsamkeit, sie wurde pervertiert zum Schauplatz wütender Pogrome, zum Objekt rassistischer Versessenheit. Unter dem Eindruck solch existentieller Bedrohung gewannen Chagalls Bilder ihre authentische Kraft zurück.
    Die faschistischen Anschläge auf jeden Rest von Moral hatten ihre engagierte Zurückweisung gefunden in dem Historienbild des 20. Jahrhunderts schlechthin. Picassos »Guernica« (Madrid, Museo del Prado) brachte die Vehemenz des Protestes zum Ausdruck, dessen die Kultur dem politischen Zynismus gegenüber fähig war. 1937 war »Guernica« die traurige Attraktion der Pariser Weltausstellung. Im selben Jahr formulierte Chagall seinen eigenen Bekennerbrief, setzte der unmittelbaren Anklageschrift des Spaniers seine Elegie entgegen: »Die Revolution« (Abb. oben)
    »Ich kam nach Palästina, um gewisse Vorstellungen zu überprüfen, ohne Fotoapparat, sogar ohne Pinsel. Keine Dokumente, keine Touristeneindrücke, und trotzdem bin ich froh, dort gewesen zu sein. Von weit her strömen sie zur Klagemauer, bärtige Juden in gelben, blauen, roten Gewändern und mit Pelzmützen. Nirgendwo sieht man so viel Verzweiflung und so viel Freude; nirgendwo ist man so erschüttert und so glücklich zugleich beim Anblick dieses tausendjährigen Haufens von Steinen und Staub in Jerusalem, in Sefad, auf den Bergen, wo Propheten über Propheten begraben liegen.«
    MARC CHAGALL
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    Die Kreuzigung, 1951/52
    Lithographie, 42,3 x 33,5 cm
    »Das Wesentliche ist die Kunst, die Malerei, eine Malerei, die ganz anders ist, als alle Welt sie macht. Aberweiche? Wird mir Gott oder sonst jemand die Kraft geben, daß ich den Bildern meinen Atem einhauchen kann, den Atem des Gebets und der Trauer, des Gebets um Erlösung und Wiedergeburt?«
    MARC CHAGALL in »Mein Leben«
    Die weiße Kreuzigung, 1938
    Öl auf Leinwand, 155 x 140 cm Chicago, The Art Institute of Chicago