Marc Chagall
Памер: 99с.
Мінск 1992
Das Halbmondpaar, 1951/52
Lithographie, 41,5 x 34,3 cm
Liebespaar vor rotem Hintergrund, 1983
Öl auf Leinwand, 81 x 65,5 cm Im Besitz der Erben des Künstlers
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Le Quai de Bercy, 1953
Öl auf Leinwand, 65 x 95 cm Basel, Sammlung Ida Chagall
»Wenn man in meinem Bild ein Symbol entdeckt, so habe ich das nicht gewollt. Es ist ein Ergebnis, das ich nicht gesucht habe. Es ist etwas, was sich hinterher findet und was man nach seinem Geschmack deuten kann.« marc chagall
Dem Rot, das das Liebespaar geradezu durchglüht, steht ein kühles Blau gegenüber, in dem am rechten Bildrand der Maler selbst erscheint, die Palette in der linken Hand. Den geöffneten Armen scheint taumelnd die mit Blumen gefüllte Vase zu entgleiten, gleich der Geliebten unten das Buch. Als Ganzes wiederholt das blaue Oval die Form der Palette, auf der Blumenstrauß und Vogelleib nichts anderes sind als abstrakte Farbtupfer. Die Motive in einem genau dreißig Jahre früher entstandenen Gemälde aus einer Serie von ParisBildern sind verblüffend ähnlich (Abb. oben). Wieder findet sich ein Liebespaar im Zentrum der Komposition, abermals erscheint ein Vogel, und der Baum links gleicht in seinen Farben einem Blumenstrauß. Chagall verwendet aber nicht nur bestimmte Motive über Jahrzehnte wieder und wieder, es läßt sich eine zweite Parallele zwischen dem Bild von 1983 und dem von 1953 aufzeigen. War im späteren Gemälde die scheinbar abstrakte Form der blauen Fläche eine Vergrößerung der Palette des Künstlers, so ist im früheren Bild, dieser vergleichbar, ein überdimensionales Herz angedeutet. Seine Spitze berührt fast die untere Bildkante und liegt exakt in der Mitte des Gemäldes. Von ihr ausgehend führt eine Linie diagonal nach links, die sich im Baum verliert; zuvor bezeichnet sie
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sowohl das Flußufer als auch eine Seite der Herzform. Nach rechts hin überschneidet eine zweite Linie den Fluß und führt in der oberen Bildhälfte in die typische Rundung der stilisierten Herzform über. Das Symbol der Liebe umschließt ein sich liebendes Paar.
Im Spätwerk gelingt es Chagall häufig, den formal begründeten, also eigentlich abstrakten Formen Bildfunktion zu verleihen. Was auf den ersten Blick als rein kompositorisch bedingte Linienführung und Flächenverteilung anmutet, entpuppt sich als ein dem Bildsinn dienendes Zeichen, wie etwa das Herz. Damit löst sich Chagall von den Ideen der Kubisten und den Bildvorstellungen Delaunays, die ihn früher beeinflußt hatten. Damals konkurrierte der Wille, das Gemälde formal völlig zu durchdringen, es gleichsam mit einem rein abstrakten Netzwerk zu überziehen, mit der Absicht, gleichzeitig noch identifizierbare Gegenstände abzubilden.
Dieser neuen Funktion der Form für den Bildsinn steht in vielen Gemälden die Befreiung der Farbe gegenüber. Leicht zeitverzögert greift Chagall dabei auf die tachistische Malerei zurück, die 1947 mit den ersten Drippaintings des Amerikaners Jackson Pollock ihren Anfang nahm. Im Bild »Die Seinebrücken« (Abb. S. 79) beispielsweise ist die blaue Farbfläche nicht mehr mit einem Bild
Die Seinebrücken, 1954
Öl auf Leinwand, 111,5 x 163,5 cm Hamburg, Hamburger Kunsthalle
»Es ist in unsern Tagen so eingerissen, die Naturzu ignorieren. Diese Haltung erinnert mich an jene Menschen, die einem niemals ins Auge sehen; sie sind mir unheimlich, und ich muß immer wegschauen von ihnen.« marc chagall
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Die Dächer, 1956
Lithographie, 55 x 41 cm
»Ich weiß nicht (und wer kann voraussehen?), welche äußere und innere Form die französische Kunst der Zukunft haben wird, wenn Frankreich sich von dieser grausamen Tragödie erholt hat... Ich bin davon überzeugt, daß nach der geschlossenen Reihe seiner großen Meister Frankreich wiederum Wunder vollbringen wird, wie in der Vergangenheit. Wir wollen an das Genie Frankreichs glauben.«
MARC CHAGALL
Das Marsfeld, 1954/55
Öl auf Leinwand, 149,5 x 105 cm Essen, Museum Folkwang
gegenstand gänzlich zu identifizieren. Zum einen überdeckt sie das liegende Paar zwar völlig, zum anderen greift sie aber über dessen Umrißlinien hinaus und bildet eine Art Aura um die sich Umschlingenden. Die Pinselführung ist in diesem wie in allen anderen Bildern, die Einflüsse der abstrakten und expressiven Malerei Amerikas erkennen lassen, alles andere als spontan; sie verstärkt nur den Eindruck jener tumben Unschuld, wie sie Chagall seit jeher unter Aufwand einigen Raffinements seinem Bildpersonal auferlegte.
Eine Variante zum Thema der Verselbständigung der Farbe sind die zahlreichen Bilder mit Blumenmotiven aus jener Zeit wie etwa das Gemälde »Das Marsfeld« (Abb. S. 81). Die floralen Motive bieten Chagall eine willkommene Gelegenheit, meisterliche Peinture zu zelebrieren. Da werden farbliche Valeurs ausgekostet, Tonwerte sorgsam modelliert und Farbkontraste goutiert. Diese Bildpassagen sind gleichsam Inseln reiner Malerei, umgeben von kaum weniger delikater Maltechnik, die aber ungleich mehr an den jeweiligen Gegenstand gebunden ist.
Wie Chagall diese neue Autonomie der Farbe für das bessere Verständnis eines Bildes einsetzt, sie quasi als Lesehilfe für den Betrachter benutzt, läßt sich am »Konzert« (Abb. S. 82) von 1957 veranschaulichen. Ein Boot mit einem Liebespaar an Bord treibt auf dem Fluß, rechts davon die Stadt am Ufer, links davon eine Gruppe von Musikanten. Die nackten Körper des Liebespaares sind von leuchtendem Rot überzogen, das sich über ihre Köpfe hinweg nach oben hin fortsetzt. Parallel zu diesem Band leiten zwei weitere blaue Farbstreifen, die von der Wasserfläche ausgehen, zum Bereich der Musiker über. Die Bänder suggerieren eine Bewegung des Bootes von rechts unten nach links oben. Der romantische Bootsausflug bei Vollmond ist recht eigentlich also eine Überfahrt von der in kühles Blau gehüllten Stadt in eine höhere, von himmlischen Musikanten bevölkerte Sphäre.
Eiffelturm, ArcdeTriomph und NotreDame weisen als Wahrzeichen die dargestellte Stadt als Paris aus. Jene Stadt, in der Chagall vor dem Krieg sein Atelier hatte, zu einer Zeit, als sie noch das war, was sie danach nie mehr sein sollte: Kunstmetropole. Chagall hatte ihr wie viele seiner Kollegen den Rücken gekehrt, die Göte d’Azur war nun zu einem kleinen Montparnasse geworden. Eine nur angemessene Umgebung für Chagall, der diese Region denn auch nicht verließ, sondern 1967 in SaintPauldeVence ein seinen Bedürfnissen entsprechendes Haus baute. Es barg allein drei Ateliers, eines für Graphik, ein weiteres für die Zeichnung und ein letztes für Gemälde und monumentale Entwürfe.
Kurz vor diesem letzten Umzug beendete er die Arbeiten zu »Exodus« (Abb. S. 83). Der Titel verweist auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten 1200 v. Chr., wie er im Alten Testament geschildert wird. Nachdem das Rote Meer auf wundersame Weise durchquert war, empfing Moses, als Anführer des Zuges, die Zehn Gebote. Im Bild hält er, rechts am unteren Bildrand stehend, eben
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»Gott, die Perspektive, die Farbe, die Bibel, Form und Linien, Traditionen und das, was man >das Menschliche« nennt Liebe, Geborgenheit, Familie, Schule, Erziehung, das Wort der Propheten und auch das Leben mit Christus, all das ist aus den Fugen gegangen. Vielleicht war auch ich mitunter von Zweifeln besessen, und dann malte ich eine umgestülpte Welt, ich trennte die Köpfe meiner Figuren ab, zerlegte sie in Stücke und ließ sie irgendwo im Raum meiner Bilder schweben.«
MARC CHAGALL
jene Gesetzestafeln, die er aus Gottes Hand entgegengenommen hatte, in seinen Armen. Hinter ihm quillt eine unüberschaubare Menschenmasse aus dem sich weit in die Tiefe erstreckenden Bildraum. Es ist das Volk Israels, das in sein Land zieht, so wie es in der Bibel als Gleichnis erzählt wird und so wie es während des Zweiten Weltkriegs bis zur Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 war und wie Chagall es sieht. Er vermischt dabei in gewohnter Manier alle historischen Ebenen und diese nochmals mit seiner literarischen Vorlage.
Der Gedanke der Vertreibung und Flucht erscheint abermals in dem Gemälde »Krieg« (Abb. S. 84). Ein ärmliches Gespann, vollkommen überladen, entfernt sich langsam von der brennenden Stadt im Hintergrund. Ihm folgt schwerfällig ein Mann, einen Sack über die Schulter geworfen und so sein Hab und Gut vor der Feuersbrunst rettend. Die meisten Figuren aber können nur noch ihr nacktes Leben retten, verzweifelt und ratlos klammern sie sich aneinander. Die in der Stadt zurückgebliebenen Menschen und Tiere schließlich sind hilflos den alles verzehrenden Flammen ausgeliefert. Chagall schildert einfühlsam die Leiden des Volkes unter der Grausamkeit des Krieges. Und indem er diesem Szenario der Gewalt am rechten oberen Bildrand noch eine Kreuzigungsszene hinzufügt, erhebt er die Opfer des Krieges zugleich zu Märtyrern, die, ohne Schuld auf sich geladen zu haben, dennoch gezwungen sind, die Sühne auf ihren Schultern zu tragen.
Das Konzert, 1957
Öl auf Leinwand, 140 x 239,5 cm New York, Sammlung Evelyn Sharp
Exodus,19521966
Öl auf Leinwand, 130 x 162 cm
Im Besitz der Erben des Künstlers
Weit seltener noch als solche modernen Historienbilder, die kaum die geschichtlichen Hintergründe reflektieren und dafür eine Art Spurensicherung menschlichen Leidens betreiben, entstehen Porträts. Ausschließlich seinen beiden Ehefrauen wurde diese Ehre noch zuteil, nachdem Chagall Rußland verlassen hatte. 1966 entstand das Bildnis von Vava (Abb. S. 85). Die Auserwählte sitzt auf einem Stuhl, über dessen Rückenlehne sie ihren linken Arm gelegt hat. Vor ihrem Körper schwebt ein Liebespaar, das der Ehefrau wohl jeden Zweifel an der tiefen Zuneigung ihres Gatten nehmen sollte. Im Hintergrund der Eiffelturm, ein roter Tierkopf, eine Dorfstraße Motive, die zum traditionellen Repertoire des Malers gehören. Hier aber suggerieren sie das Interieur eines Ateliers, in dem Vava, Chagalls Muse, vor eben jenen Bildern posiert, zu denen sie ihn inspirierte.
»Für mich ist der Zirkus ein magisches Schauspiel, das kommt und vergeht wie eine Welt.« So schreibt Chagall über eine
»Die Veränderungen in der Gesellschaftsordnung wie in der Kunst wären glaubwürdiger, wenn sie aus der Seele und dem Geist heraus wüchsen. Wenn die Menschen aufmerksamer die Worte der Propheten lesen würden, so fänden sie dort die Schlüssel zum Leben.« marc chagall