Marc Chagall
Памер: 99с.
Мінск 1992
Hierin zeigt sich vielleicht ein grundsätzliches Problem Chagallscher Bildsprache, ein Hang zur Verselbständigung der Bildmotive, der ihnen ihre Aussagekraft zu nehmen droht. Die allbekannten Elemente seiner Arbeiten, all die Liebespaare, Hütten, Tiere, später noch die religiösen Motive, bestimmen in immer neuen Kombinationen den jeweiligen Charakter eines Bildes. Wie Wörter setzen sie sich zu immer neuen Sätzen zusammen, verlieren aber durch ihre vielfache Wiederholung ihre spezifische Bedeutung. Ihr Symbolgehalt, ihre Eigenschaft als Stellvertreter einer Realität im Bild, wird nivelliert, ihr Charakter als Zitat, als Anleihe beim eigenen Werk tritt dafür in den Vordergrund. Als Extrakte einer geheimnisvoll scheinenden Welt verweisen sie bald nur noch auf ihre eigene Exotik; die Wirklichkeit, für die sie einstehen sollten, wird zum Schema. Am Ende vermittelt das Bild nur noch Stimmungslagen, die viel stärker von der Farbgebung abhängen als von seinem
68
»Wenn ich in einem Bild den Kopf einer Kuh abgeschnitten und verkehrt aufgesetzt habe oder manchmal das ganze Bild verkehrt herum male, so habe ich es nicht getan, um Literatur zu machen. Ich will in mein Bild einen psychischen Schock hineinbringen, der immer motiviert ist aus bildhaften Gründen, mit anderen Worten: eine vierte Dimension.
Ein Beispiel: Eine Straße. Matisse baut sie im Geiste Cezannes auf, Picasso in dem der Neger oder Ägypter. Ich gehe anders vor. Ich habe meine Straße. In diese Straße lege ich einen Leichnam. Der Leichnam bringt die Straße psychisch durcheinander. Ich setze einen Musiker auf ein Dach. Die Anwesenheit des Musikers wirkt auf die des Leichnams. Dann ein Mann, der die Straße kehrt. Das Bild des Straßenkehrers wirkt auf das des Musikers zurück. Ein Blumenstrauß, der herunterfällt, und so weiter. Auf diese Weise lasse ich das Psychische, die vierte Dimension, in das Bildhafte herein, und die beiden vermischen sich.« MARC CHAGALL
Die Hochzeit, 1944
Öl auf Leinwand, 99 x 74 cm Sammlung Ida Chagall
Inhalt. Die Motive dienen nur noch der Wiedererkennbarkeit einer Arbeit, ihrer Etikettierung als »typischer Chagall«. Damit ist die Aura des Fremden getilgt, unter der Chagall angetreten ist. Dem damit verbundenen Appell an Toleranz und Verständnis, den er wie kein .zweiter formuliert hat, droht Gefahr, in der Überpräsenz des Typischen unterzugehen. Allein Chagalls vitale Fähigkeit zu stilistischem Wandel vermochte dieser Gefahr einen gewissen Einhalt zu gebieten. Darin erweist er sich als gelehriger Schüler der Abstrakten: Pinselstrich und Farbkombination bestimmen in erster Linie den spezifischen Gehalt, die Individualität eines jeweiligen Bildes von Chagall, nicht seine Motive.
Wie »Das grüne Auge« (Abb. S. 72) oder »Die Madonna mit dem Schlitten« (Abb. S. 75) legt auch »Beim Hahnenschrei« (Abb. S. 69) dafür Zeugnis ab. Die Figur des Hahnes, den nur seine Silhouette und der farbig gestaltete Kopf vom Rot des Hintergrundes abheben, integriert in sich zwei weitere beispielhafte Motive Chagalls: In seiner gezierten Beinhaltung verweist erauf die Athletik der Akrobaten, im Gefieder seines Schwanzes hat sich ein Geiger verborgen. Witzigerweise legt dieser Hahn Eier und enthält damit die gleiche Verbindung von Männlichem und Weiblichem in sich wie die Kuh vordem schwarzen Untergrund, deren Kopf sich in das Antlitz eines Liebespaares teilt. Die Mondsichel, der Baum, der Kopfstand macht, und die Hütte vervollständigen diese Auswahl aus Chagalls Motivfundus. Die Morgenröte, in der der Hahn kräht, vertreibt langsam die Dunkelheit der Nacht, die Sphäre des Paares. Vielleicht ist das Bild darin Dokument eines neuen Hoffnungsschimmers, den Chagall erahnen konnte angesichts des sich abzeichnenden Debakels des Nationalsozialismus.
»Vor meinen Augen ist es dunkel geworden.« Dies ist Chagalls desparater Schlußsatz zu Bellas Buch »Erste Begegnung«. 1947, als es erschien, war sie schon drei Jahre tot, gestorben unter mysteriösen Umständen an einer Virusinfektion. All die Anzeichen, die eine bessere Welt versprachen, waren mit einemmal verflogen, die vielbeschworene Muse Chagalls hatte mit ihrem Buch ein Vermächtnis gegeben, einen endgültigen Ansporn für die Arbeiten ihres Mannes. »Die Hochzeit« (Abb. rechts), kurz nach ihrem Tod 1944 entstanden, greift denn auch eine Episode aus »Erste Begegnung« auf, die Vermählung ihres Bruders Aaron. Doch der beschwingte Ton, den Bella anschlägt und mit dem sie eine Marcs Autobiographie ganz ähnliche Stimmung von Unbeschwertheit und koketter Ironie verbreitet, ist einer sinistren Traurigkeit gewichen. Fast apathisch lehnt sich das Brautpaar aneinander, die engelhaften Musikanten könnten ebensogut zum Totentanz wie zum Hochzeitstanz aufspielen. Um Bellas Hinscheiden drehen sich die BilderderZeit, dem verhängnisvollen Geschehen in der Welt hat sich privates Unglück hinzugesellt.
Nach der Befreiung Europas wagt sich Chagall 1946 ein erstes Mal zurück in die Alte Welt, in der seine Karriere begann. Der
70
Das grüne Auge, 1944
Öl auf Leinwand, 58 x 51 cm Sammlung Ida Chagall
Eindruck der Parisreise mag auch die zaghafte Fröhlichkeit erklären, die sich in ein Bild wie »Kuh mit Sonnenschirm« (Abb. rechts) eingeschlichen hat. Die Sonne brennt heiß vom Himmel, der Griff
72
Kuh mit Sonnenschirm, 1946
Öl auf Leinwand, 77,5 x 106 cm
New York, Sammlung Richard S. Zeisler
zum Schirm verspricht Linderung. Doch ausgerechnet eine Kuh scheint ihn zu benötigen, in dem klassischen Stilmittel der Substitution hat Chagall den Menschen durch das Tier ersetzt. Beispielhaft kommt dieser Kunstgriff hier zur Anwendung, der ein Charakteristikum ist für Chagalls Werk und viel beisteuert zum Charme des Anekdotischen, der die Ironie trägt. Doch nach wie vor beherrscht eine düstere Farbgebung das Bild, macht aus der Humoreske eine etwas zwanghafte Beschwörung guter Laune.
Den Abgesang auf 25 Jahre künstlerischer Aktivität, den Extrakt aus Chagalls engagierter Anteilnahme an der Welt, das Schlußwort für eine Chronik zunehmender Barbarei liefert »Der Engelsturz« (Abb. S. 74). 25 Jahre lang quälte sich Chagall an seiner Vollendung. 1922, zu Beginn der Arbeit, noch unter dem Eindruck der Revolution, sollte das Bild, nur die Gestalt des Juden und des Engels enthaltend, die alttestamentarische Rechtfertigung für das Böse in der Welt zeigen. Immer mehr, bis zu seiner Fertigstellung 1947, gingen Motive der Erinnerung an die kleine Welt Rußlands darin ein, zuletzt noch ergänzt von den christlichen Motiven der Madonna und des Gekreuzigten. Jüdische Vision, individuelle
»Wenn Chagall malt, weiß man nicht, ob er dabei schläft oder wach ist. Irgendwo in seinem Kopf muß er einen Engel haben.«
PABLO PICASSO
73
Der Engelsturz, 19231947
Öl auf Leinwand, 148 x 189 cm Basel, Kunstmuseum Basel
RECHTS:
Die Madonna mit dem Schlitten, 1947
Öl auf Leinwand, 97 x 80 cm Amsterdam, Stedelijk Museum
Geschichte und christliche Erlösungsmotivik verdichtet es zu einem programmatischen Bekenntnis, das stellvertretend ist für Chagalls gesamtes CEuvre. Zueinander addiert sind seine Motive, doch in ihrer Gesamtheit, in der Vielfalt der Bezüge, die sie assoziieren, stehen sie ein für Chagalls stetes Streben, eine veritable visuelle Weltformel zu finden. Zumindest seine Geschichte, sein Weg durch die halbe Welt und die eine Generation, die es zu seiner Vollendung bedurfte, macht das Bild exemplarisch für die Kunst des 20. Jahrhunderts, für die Ortlosigkeit und Gefährdung, in die das autonom gewordene Werk verstrickt ist. Allein sein Werdegang gibt ihm schon die Autorität, die Chagall stets beabsichtigt hatte und die der jüdischen Ehrfurcht vor dem Bild gemäß war. Chagalls Odyssee, die mit seiner endgültigen Rückkehr nach Frankreich im Sommer 1948 zum glücklichen Ende kam, war von früh an, seit Waldens Ausstellung in Berlin, auch die Odyssee seiner Bilder gewesen.
74
Das Spätwerk 1948 1985
Auch nach Chagalls Rückkehr nach Frankreich bleibt sein Werk eine poetische Metapher seiner bewegten Biographie; ein Seilakt zwischen Traum und Wirklichkeit, ein Abenteuer der Phantasie, die das Unsichtbare sichtbar und damit wirklich macht. Doch von den beiden Ausgangspolen seiner malerischen Existenz, der jüdischorthodoxen Tradition und der russischen Folklore, scheint sich sein Spätwerk allmählich etwas zu entfernen. Die Einbindung der Bildthemen in das kulturelle Wissen eines kleinen russischen Dorfes wird ersetzt durch Motive aus der griechischen Mythologie, dem christlichen Glauben oder unmittelbaren Wahrnehmungen im täglichen Leben. Die Wahl der Themen erfährt also eine behutsame Veränderung, darüber hinaus hat sich der Gehalt der wieder und wieder verwendeten Symbole über die Zeit abgeschliffen. Auch der Anschluß an die Avantgardekunst tritt nach 1947 nahezu gänzlich in den Hintergrund, die Bildsprache scheint mehr von persönlichen, über Jahre erwachsenen Vorlieben geprägt als vom Willen, den Anschluß an die neuesten formalen Tendenzen in der Kunstszene zu wahren.
Es ist aber nicht nur das künstlerische Tagesgeschäft, von dem sich Chagall distanziert, erzieht sich überhaupt in zunehmendem Maße ins Privatleben zurück. Sein vormals unstetes Leben ist mehr oder minder vorüber. 1950 bezieht er ein Haus in SaintJeanCapFerrat, zwei Jahre darauf heiratet er zum zweitenmal. Der Russin Valentina Brodsky gilt seine Liebe, von ihm nur zärtlich Vava genannt. Häusliches Glück also, auf das sich Chagall gerade zu jenem Zeitpunkt besinnt, als seine Kunst und damit auch er selbst in das Interesse der Öffentlichkeit rücken.
Seine Bilder blieben freilich trotz wachsenden Ruhmes auch in den letzten Schaffensjahren von jener ihnen von Beginn an eigenen Weltferne und Intimität geprägt. Noch 1983 entstand das Gemälde »Liebespaar vor rotem Hintergrund« (Abb. links). Vorsichtig legt der Mann seinen Arm um den Oberkörper der Frau, gewillt, sie sanft für sich zu gewinnen. Kosend neigt er seinen Kopf ihr zu, sucht sein Blick den ihren, während sie noch zögernd sich abwendet und auf den Betrachter des Bildes blickt, als störe jener das zärtliche Stelldichein.