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    Marc Chagall


    Памер: 99с.
    Мінск 1992
    101.96 МБ
    Die zweite, auf 1911 datierte Version der »Geburt« hat denn auch einen viel freieren Zugang zu einem der Mysterien der Natur gefunden (Abb. S. 28). Das steife Pathos der früheren Fassung, bei der Chagall im Wunsch nach künstlerischer Profilierung die Aussagefähigkeit des Bildes doch stark strapazierte, ist nun dem fröhlichen Bekenntnis zur Anekdote gewichen. Immer noch liegt die junge Mutter auf ihrem blutverschmierten Laken, doch um sie herum herrscht nun ein buntes Treiben. Aufgeregt unterhalten sich zwei Frauen, andere sind auf dem Ofen eingedöst, und im rechten Bildteil wartet man schon darauf, das freudige Ereignis gebührend zu feiern. Die Dynamik bildnerischer Formen, die Chagall durch die Anleihen beim Kubismus in seine Arbeiten hatte einbringen können, vermag auch die Bilderzählung zu verlebendigen. Nun erst erhalten die Kindheitserlebnisse, von denen Chagalls Bildwelt stets zehrt, jene Beschwingtheit und jenen vitalen Charme, der sie, unabhängig von aller Symbolik, einfach nachvollziehbar macht als Reportage unbeschwerter Existenz. Der Kopf, der verkehrt auf den Schultern des Dichters sitzt, der Soldat, der, den Finger unter den Hahn des Samowars haltend, salutiert und dem sich dabei die Mütze von selbst hebt  wie in »Der Soldat trinkt« (Abb. S. 27) , tauchen ähnlich überall in diesem CEuvre auf. Der Plauderton ist ein Charakteristikum Chagalls.
    Wie im Werk seines großen Zeitgenossen Picasso wechseln auch bei Chagall analytische und synthetische Phasen einander ab. In seiner Frühzeit in Paris hat Chagall, angeregt vom analogen Verfahren des Kubismus, im Ineinandervon Motiven seine Erlebniswelt untersucht, Eindrücke und Erinnerungen nebeneinandergestellt, zusammengehalten nur durch einen abstrakten Raster, der die Bildfläche überzog. In der späteren Pariser Zeit nun liegt sein Augenmerk immer stärker auf der einzelnen Szene, die das gesamte Bild beherrscht, auf der Verdichtung seiner Gedanken in dem einen Augenblick, in dem die Zeit stehengeblieben scheint. »Während ich in Frankreich an diesem einzigartigen Umsturz der künstlerischen Techniken teilnahm, kehrte ich in Gedanken, in meiner Seele sozusagen, in mein eigenes Land zurück. Ich lebte mit dem Rücken dem zugewandt, was sich vor mir befand.« 1960 hat Chagall so seine Hinwendung an die Vergangenheit beschrieben,
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    Hommage für Apollinaire, 1911/12
    Öl, Gold und Silberpulver auf Leinwand, 200 x 189,5 cm
    Eindhoven, Stedelijk Van Abbemuseum
    die auch einen Rückzug bedeutete aus jener avantgardistischen Szene, die künstlerischen Fortschritt mit Neuartigkeit, mit Originalität der Sprache, gesprochener wie geschriebener, gleichsetzte.
    »Der Viehhändler«  1912 datiert, aber wie so viele Bilder
    wohl später entstanden (Abb. S. 31) , inszeniert dagegen die harmonische Einfalt des Bauernlebens. Metaphern derGeborgen
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    Der Soldat trinkt, 1911/12
    Öl auf Leinwand, 109 x 94,5 cm New York, Solomon R. Guggenheim Museum
    heit beherrschen die Landszene, das noch ungeborene, im Bauch der Stute geschützte Fohlen, das Lamm auf den Schultern der Frau, das christliche Motiv des guten Hirten zitierend, die Brücke, über die der Wagen ruhig rollt. Der entspannte Gesamteindruck, der durch die kompositionelle Abfolge von Waagrechten und Senkrechten getragen wird, läßt vergessen, daß mit den Tieren
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    Die Geburt, 1912
    Öl auf Leinwand, 112,5 x 193,5 cm
    Chicago, The Art Institute of Chicago
    RECHTS:
    Adam und Eva (Die Versuchung), 1912
    Öl auf Leinwand, 160,5 x 109 cm
    St. Louis (Mo.), St. Louis Art Museum
    Geschäfte gemacht, sie vielleicht zur Schlachtbank geführt werden. Die Erinnerung an die Heimat überzieht die Darstellung mit dem verniedlichenden Schleier des Genrehaften.
    Stärker noch beschwört »Die Prise« (Abb. S. 30) das eigene Land. Die hoheitsvolle Gestalt des bärtigen, gelockten Juden, Gebetsriemen und Davidstern im Hintergrund, das Buch mit den hebräischen Schriftzeichen rufen ein vertrautes Bild vor Augen, das durch die Farbgebung gleichwohl als Vision gekennzeichnet bleibt. Zwischen Nähe und Ferne, Alltäglichkeit und Exotik pendelnd ist es ein Dokument des Heimwehs. »Segal Mosche« steht, in der hebräischen Schrift verschlüsselt, im Buch, der Name des Künstlers in der Heimat, den er um der Prägnanz willen noch in Rußland zu »Marc Chagall« internationalisiert hatte. Chagalls Wunsch, die Heimat wiederzusehen, wird immer drängender.
    Im Frühjahr 1914 ergibt sich die Gelegenheit. Auf Fürsprache Apollinaires organisiert Herwarth Walden, Mentor des Expressionismus und Herausgeber des »Sturm«, der wichtigsten deutschen Zeitschrift für Avantgardekunst, in seiner Berliner Galerie die erste große Einzelausstellung für Chagall. Bis auf den Verkauf einiger Graphiken hatte er in Paris keine Geschäft gemacht, das Angebot des renommierten Händlers kam nun einem internationalen Durchbruch gleich. Ironie des Schicksals und der Politik ist dabei, daß Chagall vom Erlös der Bilder nichts erhielt. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte die große Karriere auf Jahre hinaus.
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    Der Viehhändler, 1912
    Öl auf Leinwand, 97 x 200,5 cm
    Basel, Kunstmuseum Basel
    »Meine Bilder blähten sich in der Potsdamer Straße, während man ganz in der Nähe die Kanonen lud«, erinnert sich Chagall. Trotzdem reiste er, mit einem Besuchervisum für drei Monate in der Tasche, am 13. Juni 1914 nach Rußland, um bei der Hochzeit der Schwester dabeizusein, Erinnerungen aufzufrischen und Bella wiederzusehen. Bald sind die Grenzen geschlossen, aus den geplanten Wochen werden acht Jahre. Chagall ist an den Ort, den fast alle seine Bilder beschwören, zurückgekehrt.
    »Der Geiger« (Abb. S. 33) ist eine der letzten Arbeiten der Pariser Zeit. Im Gegensatz zur früheren Version (Abb. S. 32), datiert 1912/13, die die Textur des Tischtuchs durchscheinen läßt, auf das sie gemalt ist, und die dadurch wie auch im Gebrauch sich widersprechender Größenverhältnisse dem Kubismus verpflichtet bleibt, zieht sich nun eine Wegschleife wie ein roter Faden durch die Darstellung, ihr räumliche und szenische Einheit verleihend. Der rotgewandete Fiedler, hinter dem ein Betteljunge um einen kleinen Obolus ersucht, ist die dominierende Figur. Traditionell führt er jüdische Hochzeitszüge an (vgl. Abb. S. 10), die beiden Personen des Hintergrundes lassen sich so deuten als frischvermähltes Paar. Kaum mehr wird die solide Ausgewogenheit gestört durch Elemente des Grotesken, einzig die Farbgebung verleiht der Szenerie Züge des Imaginären, des Vorgestellten, Eingebildeten, das diese in der Metropole des Westens entstandenen Bilder ja sind. »Der Geiger« verschleiert eher seine Konstruiertheit, simuliert eine Tatsächlichkeit des Abgebildeten, die nicht vorhanden war. In ihm jedenfalls sind Ausdrucksmittel angelegt, die Chagall in Rußland, die Motive nunmehr konkret vor Augen, unverändert wird übertragen können.
    LINKS:
    Die Prise, 1912
    Öl auf Leinwand, 128 x 90 cm
    Privatbesitz
    ABBILDUNG SEITE 32:
    Der Geiger, 1912/13
    Öl auf Leinwand, 188 x 158 cm
    Amsterdam, Stedelijk Museum
    ABBILDUNG SEITE 33:
    Der Geiger, 19111914
    Öl auf Leinwand, 94,5 x 69,5 cm
    Düsseldorf, Kunstsammlung
    NordrheinWestfalen
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    Krieg und Revolution in Rußland 1914  1923
    »Witebsk ist eine Welt für sich; eine einzigartige Stadt, eine unglückselige, eine langweilige Stadt.« Gemessen an dem allerdings, was Chagall in den kommenden Jahren erleben wird, trifft sein Verdikt der Langweiligkeit eher auf Paris als auf seine Heimatstadt zu. Der Aufenthalt in Frankreich war geprägt von kontinuierlicher Arbeit und ereignislosem Treiben in den elitären Zirkeln der Boheme. Weniger die Auseinandersetzung mit der Realität der Großstadt war deswegen Grundlage seines Pariser CEuvres als die Selbstreflexion, die Spurensicherung an der eigenen Vitalität. Krieg und Revolution werden nun Chagalls Leben und auch Werk bestimmen, ihn in Situationen existentieller Bedrängnis bringen.
    Alle großspurige Attitüde ist aus dem Selbstbildnis, das bald nach der Rückkehr entsteht, gewichen (Abb. links). Geläutert gibt sich der Künstler nun, verglichen mit der ähnlichen Version von 1909 (Abb. S. 2), skeptisch, fast etwas geheimnisvoll lugt er hinter den Blättern der Pflanze hervor, bereit, sich jeden Moment dahinter zu verbergen. Chagall betont die weichen und femininen Züge seines Gesichts, ist ganz der Junge, der Rouge auf seine Wangen legt, so wie er sich früher gefallen hatte. Gewiß mag er mit dieser Darstellung der Erwartungshaltung seiner Familie entsprochen haben und bestätigte so das Bild, das von ihm lebendig geblieben war. Doch mehr noch dokumentiert das Porträt Chagalls Angst vor der Rekrutierung für die Armee des Zaren. Eindringlich vermeidet Chagall hier jeden Eindruck von Männlichkeit und Stärke, die ihn prädestiniert hätten zum Kanonenfutter für den Krieg, für das gerade Juden oft genug hatten herhalten müssen.
    »Woina«, Krieg, ist auch das einzige Wort, das entzifferbar ist auf dem Titelblatt der »Smolensker Zeitung« (Abb. S. 37). Zwei Männer haben das Journal vor sich auf dem Tisch liegen, und ihre Unterhaltung scheint sich ausschließlich um das Morden zu drehen, das Europa bevorsteht. Der alte Jude hat nachdenklich seine Arme aufgestützt, er denkt an die Zwangsverpflichtungen, die seinem Volk vom Zarenregime von alters her auferlegt waren. Gar nicht begeistert zeigt sich auch sein Gegenüber, durch Anzug und Melone als Bürger gekennzeichnet; verwirrt wischt er sich über die Stirn. Paul Cezannes berühmte »Kartenspieler« standen für die
    Selbstbildnis, 1922/23
    Lithographie, 24,5 x 18,2 cm
    Selbstbildnis mit weißem Kragen, 1914
    Öl auf Karton, 30 x 26,5 cm
    Philadelphia, Philadelphia Museum of Art
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    Die Smolensker Zeitung, 1914
    Öl auf Papier auf Leinwand, 38 x 50,5 cm Philadelphia, Philadelphia Museum of Art
    Darstellung Pate, doch nach dem harmlosen Spielchen, das der Altmeister inszeniert hatte, ist Chagall nicht zumute. Beklemmung und Bestürzung sprechen aus dem Bild; das laute »Hurra«, mit dem viele seiner Künstlerkollegen in den Krieg gezogen waren, Apollinaire beispielsweise, bringt er nicht über die Lippen.