Marc Chagall
Памер: 99с.
Мінск 1992
reagiert nicht auf ein konkretes Ereignis, aberversucht das unausweichliche Unbehagen an der Politik in eigene Worte der Betroffenheit zu fassen. Antithetisch stehen sich zwei Möglichkeiten, Welt zu begreifen, Welt zu gestalten, gegenüber. Auf der linken Seite stürmen Revolutionäre die Barrikaden, ihre roten Fahnen verkünden stolz den Sieg des Kommunismus. Die rechte Bildhälfte setzt dieser Einheitlichkeit, die für die politische Forderung nach Gleichheit steht, das freie Walten menschlicher Phantasie entgegen. Musikanten, Clowns und Tiere tummeln sich da, das obligatorische Liebespaar räkelt sich auf dem Dach einer Holzhütte, in typisch Chagallscher Manier ist die Schwerkraft aufgehoben angesichts des allgegenwärtigen Strebens nach Entfaltung. Das Scharnier zwischen beiden Sphären bildet die Gestalt Lenins; akrobatisch auf einer Hand balancierend, weist erden Revolutionären den rechten Weg in die Welt individueller Besonderheit. »Ich denke, die Revolution könnte eine große Sache sein, wenn sie die Achtung vor dem anderen bewahrte«, hatte Chagall im Einklang mit seinem Selbstverständnis als Künstler seine Erlebnisse in Rußland resümiert. Die schöpferische Kraft des einzelnen ist der Motor im Kampf um politische Freiheit. Doch der alte Jude aus »Einsamkeit« denkt noch immer nach über seine Zukunft und die seines Volkes.
In der vehementen Programmatik des Bildes, in seiner Überladung mit Bedeutung ist jeder Stimmungsgehalt verlorengegangen. An die Beflissenheit des Frühwerks erinnert es, genauso ambitioniert im Streben nach allgemeiner, überindividueller Verbindlichkeit, genauso unbefriedigend in der formalen Lösung. Die archetypische Gegenüberstellung von symbolbefrachteten Kürzeln für Welt wird der Komplexität des Geschehens, das reflektiert werden soll, nicht gerecht. Chagall selbst war nie glücklich mit dieser Antwort auf Picassos Monumentalwerk. Die großformatige Fassung von »Revolution« wird er 1943 in drei Teile zerschneiden, in der Bildform des Triptychons politische und religiöse Symbolik vermengen. Die abgebildete kleinere Version blieb erhalten, als Dokument unmittelbarer Anteilnahme an der Welt jenseits allen Willens, zeitlose Kunst zu schaffen.
Das zweite Programmbild dieser Zeit, »Die weiße Kreuzigung« von 1938 (Abb. rechts), bietet eine bessere Lösung an. »Wenn ein Maler Jude ist und das Leben malt, wie könnte er sich gegen jüdische Elemente in seinem Werk wehren I Aber wenn er ein guter Maler ist, besitzt das Bild viel mehr. Das jüdische Element ist zwar da, aber seine Kunst will universale Geltung erreichen«, hatte Chagall 1933 seine Ziele beschrieben. In der Gestalt des gekreuzigten Christus, in der Passion des Propheten der Juden, des als Mensch gestorbenen Gottes der Christenheit, findet Chagall nun die allgemeingültige Chiffre für das Elend seiner eigenen Zeit. Wie Arma Christi, die Leidenswerkzeuge in traditionellen Kreuzigungsdarstellungen, gruppieren sich um das monumentale Kruzifix Szenen der Wirrnis. Revolutionäre Horden mit roten Fahnen ziehen
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eigenen Existenz. Zauberhafte Atmosphäre ersetzt jene Lebhaftigkeit der Motivwelt, die eine ereignisreiche Wirklichkeit als Korrektiv benötigt.
Bald jedoch verdüstert sich die Stimmung. «Einsamkeit«, so der Titel des Bildes von 1933 (Abb. unten), tiefe Melancholie ersetzt den fröhlichen Reigen der Liebenden. Ganz in sich versunken, in seinen Gebetsmantel verkrochen, sitzt der vollbärtige, alterslose Jude im Gras. Die Thorarolle in seiner Linken ist geschlossen, die religiöse Tradition seiner Väter scheint ihm keine Anhaltspunkte zur Linderung seiner Verdrossenheit zu geben. Neben ihm liegt mit traurigen Augen eine Kuh, den Worten des Propheten Hosea entsprechend: »Ja, Israel ist störrisch wie eine störrische Kuh.« Gemeinsam symbolisieren sie Chagalls Volk, das Volk in der Diaspora, wie das russische Ambiente erkennen läßt. Aus dem malerischen Alten ist Ahasver geworden, der Ewige Jude, der endlos in derWelt umherirrt, im Unklaren über seine Zukunft. Am Horizont, im Hintergrund der sonst so zärtlich gesehenen Weite des Landes, ziehen Gewitterwolken auf, bedrängen den Engel am Himmel mit ihrer unheilvollen Schwärze. 1931 hatte Chagall Palästina besucht, das gelobte Land, doch das bildnerische Resultat dieser Reise läßt alles andere als Optimismus verspüren. Sensibel für den
Einsamkeit, 1933
Öl auf Leinwand, 102 x 169 cm Tel Aviv, Tel Aviv Museum
plündernd und sengend durch ein Dorf. Flüchtlinge rufen wild gestikulierend von einem Boot aus um Hilfe. Ein Mann in NSUniform schändet die Synagoge. Abgehärmte Gestalten versuchen sich im Vordergrund aus dem Bild zu retten. Ahasver, der Ewige Jude, zieht schweigend vorbei, über eine brennende Thorarolle steigend. Klagend schweben die Zeugen des Alten Bundes vor der abweisenden Finsternis des Hintergrundes. Doch ein heller Lichtstrahl dringt von oben ein, beleuchtet die weiße, unversehrte Gestalt des Gekreuzigten. Die Spuren seines Leidens sind getilgt, die Verehrung seiner jahrhundertealten Autorität wird zum Hoffnungsträger inmitten aller traumatischen Erlebnisse der Gegenwart. Der Glaube an ihn, so lautet Chagalls Angebot, versetzt die Berge der Hoffnungslosigkeit.
Aus diesem Bild ist alle leise Ironie gewichen, schiere Existenzangst hat einen pathetischen Appell an die Kraft der Religion formuliert, die in Chagalls Werk einmalig ist. Hier, und vielleicht nur hier, verliert Chagalls Griff in die Trickkiste derTradition jeden Ruch gewollter Genialität. Gerade in der Integration aktueller Szenerien gewinnt das Bild die zeitlose Tiefe der Ikone. «Man darf keine Bilder mit Symbolen malen. Wenn ein Kunstwerk ganz und gar authentisch ist, gibt es von selbst Symbolisches darin«, hat Chagall einmal geäußert. Seine Antwort auf Picassos Historienbild »Guernica«, das vom Leiden erzählt, ist das Andachtsbild »Weiße Kreuzigung«, das sich in das Leiden einfühlt.
Eine Sensibilität, die schon vor Kriegsbeginn die Schrecken des Kommenden so intensiv spürte, steigerte sich nach der Kriegserklärung in Anflüge von Panik. Innere Emigration, die Flucht in die persönliche Enge der Kunst vor der Inanspruchnahme durch die Politik, wie sie beispielsweise Picasso in Paris angetreten hatte, würde für den Juden Chagall nur untätiges Warten auf die Vernichtungslager bedeuten. So zog die Familie im Frühjahr 1940 nach Gordes in der Provence, in den Süden Frankreichs, wo die räumliche Distanz zu NaziDeutschland eine gewisse Sicherheit garantierte. Hier vollendet Chagall 1940 »Die drei Kerzen« nach zweijähriger Arbeit daran (Abb. links). In der Isolation von jedem kulturellen Leben, in der ständigen Angst vor der Internierung führt er sich geradezu manisch sein Motivrepertoire vor Augen; der Gaukler, das Liebespaar, das Dorf bestätigen in ihrer stummen Abrufbarkeit die Existenz des Künstlers gegen die Bedrohung. Melancholische Farben herrschen vor, die Ängstlichkeit, die aus den schüchternen Gebärden der Figuren spricht, erstarrt zum stillebenhaften Signum der Vergänglichkeit, verdichtet sich durch die Todessymbolik der Kerzen zum düsteren Memento mori.
Frankreich, dessen Regierung mit den Nationalsozialisten paktiert, bietet Chagall keine Sicherheit mehr. Während einer Razzia in Marseille wird er festgenommen, die drohende Auslieferung an die Deutschen kann noch verhindert werden durch eine Intervention der Vereinigten Staaten. Der berühmte Maler kann auf
Die drei Kerzen, 19381940
Öl auf Leinwand, 127,5 x 96,5 cm Privatbesitz
»Wenn es je eine moralische Krise gab, so die der Farbe, der Materie, des Blutes und ihrer Elemente, der Worte und Töne, all jener Dinge, aus denen man ein Kunstwerk erschafft wie auch ein Leben. Denn selbst wenn man eine Leinwand mit Wülsten von Farbe bedeckt, gleichviel, ob dabei Umrisse zu erkennen sind oder nicht und selbst wenn man Wort und Töne zu Hilfe nimmt , so entsteht deshalb nicht unbedingt ein authentisches Kunstwerk.«
MARC CHAGALL
ABBILDUNG SEITE 66/67:
Die Anfechtung, 1943
Öl auf Leinwand, 77 x 108 cm
Im Besitz der Erben des Künstlers
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»In Amerika habe ich gelebt und gearbeitet in einer Zeit der weltweiten Tragödie, die alle Menschen getroffen hatte. Während die Jahre dahingingen, bin ich nicht jünger geworden. Aber ich konnte in der Atmosphäre von Gastfreundschaft Kraft schöpfen, ohne daß ich die Wurzeln meiner Kunst verleugnen mußte.«
MARC CHAGALL
Beim Hahnenschrei, 1944
Öl auf Leinwand, 92,5 x 74,5 cm Sammlung Katherine Smith Miller und Lance Smith Miller
öffentliche Fürsprache bauen in einer Situation, in der ein Großteil seines Volkes den stummen Leidensweg in die Vernichtung antritt. Am 7. Mai schifft sich Chagall mit seiner Familie nach Amerika ein. Der Mythos von Ahasver, von der rastlosen Wanderschaft des Judentums, den er so oft in seinen Bildern erzählt hatte, ist nicht nur ein literarisches Motiv.
Am 23. Juni 1941, dem Tag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, trifft Chagall in New York ein. Nach Paris und Berlin lebt er nun in der dritten Metropole, in der exemplarisch ein buntes Völker und Kulturgemisch nach Entfaltung drängt. Seinen eigenen Lebenserfahrungen gemäß zog es Chagall stets in jene Schmelztiegel, in denen Vielfalt und Exotik Lebenselixierwaren. Etwas abseits der Stadt, in Preston (Connecticut) bezieht die Familie ein Landhaus, bevor sie in eine kleine New Yorker Wohnung übersiedelt.
In der distanzierten Anteilnahme am Kriegsgeschehen variiert Chagall in den kommenden Jahren den tief melancholischen Grundton der letzten französischen Arbeiten. Kriegs und Kreuzigungsthematik dominieren, doch die Intensität des Mitfühlens schwindet etwas. Täglich neue Meldungen von den Greueltaten scheinen Chagalls pathetische Bereitschaft zur Solidarität abgestumpft zu haben. »Die Anfechtung« von 1943 (Abb. S. 66/67) jedenfalls dokumentiert die Unmöglichkeit, jahrelang immer neue Chiffren der Betroffenheit zu erfinden. Die Stichflamme, die aus der Hütte schlägt, der Jude mit dem dreiteiligen Kerzenständer, das Fluchtmotiv des Wagens oder die Bedrohlichkeit der flammenden Farben sind wieder zu Selbstzitaten banalisiert. Einzig das gestürzte Kruzifix, Dokument gescheiterter Hoffnung, verweist auf das Ausmaß an Ungeheuerlichkeit, die sich in den letzten Jahren ereignet hat. Doch erscheint dieses Stilmittel als etwas zu anekdotisch, erscheint auch die Verbindung von Passionsmotiv und Kriegsthematik als nunmehr zu verbraucht, um dem wirkungsvollen Dementi der »Weißen Kreuzigung« noch neue Dimensionen der Anteilnahme bildnerisch hinzuzufügen.